Kapitel 46

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"Wie kann ich dir denn helfen?"

Meine Stimme zitterte bei diesen Worten. Hatte ich vielleicht etwas Falsches getan und trug sonstige Schuld an ihrer Lage?

"Sorry, dass ich mit dem Mist zu dir komme, aber ich weiß nich', zu wem ich sonst soll. Ich bin mir einfach unsicher", murmelte Sam in einem für sie so untypisch leisen Tonfall.

"Mach dir keinen Kopf, setz dich", entgegnete ich unentwegt und klopfte neben mich, woraufhin sie meiner Aufforderung erleichtert Folge leistete und gleich, nachdem sie sich niedergelassen hatte, in sich zusammensackte und ein müdes Pusten ausstieß, wobei ihr Pony für einen Moment wild in der Luft wehte.

"Gut, dann leg ich eben los", räusperte sie sich gespielt locker, doch ich erkannte, wie nervös sie eigentlich war. "Ich hab' das Gefühl, es geht den Bach runter mit mir. Keine Ahnung, aber in den letzten Tagen, da, naja, hab' ich immer wieder Anfälle. Sie kommen einfach ohne Vorwarnung, die Mistviecher. Naja, wie auch immer, wenn ich damit zu 'ner Ärztin oder meiner Therapeutin gehe, bin ich am Arsch, das weiß ich. Die stecken mich dann zu den anderen Notfällen nach Neptun und lassen mich da versauern, bis ich nach Kloake rieche. Wusstest du' schon? Bei denen is' das Wasserrohr geplatzt und jetzt stinkt's wohl in der ganzen Station nach Scheisse."

Mit einem verzweifelt wirkenden Versuch, die Situation aufzulockern, wandte sie ihren Kopf zu mir und grinste mich an, doch ich wusste, dass sie mir nur vorspielte, entspannt zu sein. Ihre Augen wirkten matt und erschöpft, bevor sie sich wieder von mir abwandte und erneut aus dem Fenster starrte, um meinem besorgten Blick zu entgehen. Ich wusste, dass etwas nicht mit ihr stimmte; mehr, als sie mir bereits offengelegt hatte.

"Lenk bitte nicht vom Thema ab, Sam", meinte ich daher unverfroren, was sie dazu brachte, ihren Kopf wieder mir zuzuwenden. "Was ist noch los? Du kannst es mir erzählen."

Ich hatte keine Ahnung, woher diese plötzlich auftauchende mütterliche Fürsorge für meine Mitbewohnerin herrührte, doch in diesem Moment fühlte ich mich endlich nützlich. Vielleicht würde ich Sam helfen können, indem ich ihr einfach nur meine offenen Augen und Ohren lieh; jedenfalls hoffte ich es inständig, während ich sie abwartend betrachtete und sie nervös schluckend am Saum ihres T-Shirts hantierte. Ihre Augen wanderten zuckend über die Wand hinter mir und sie schien es nicht übers Herz bringen zu können, mir in die Augen zu sehen.

"Sam?"

Endlich sah sie mich wieder an, wobei sich zuvor unterdrückte Tränen in ihren Augenwinkeln sammelten.

"Ich bin müde, Scarlett."

Sie verwendete meinen echten Namen, kein Letty oder Lettchen, was mir augenblicklich Angst bereitete. Ich fühlte eine unangenehme Hitze von meiner Bauchhöhle über meinen Eingeweiden bis zu meinem Rachen ansteigen, während ich versuchte, vor meiner verzweifelten Freundin die Contenance beizubehalten, die sie in ihrer jetzigen Situation wahrscheinlich dringend brauchte.

Freundin?

Waren wir überhaupt Freunde? Ich hatte nie tiefgründig darüber nachgedacht. Was erwartete ich von einer Freundin und was konnte ich im Gegenzug zurückgeben?

Vollkommen verloren in meinen Gedankenspielen musste ich mich zusammenreißen, um wieder auf den Boden der Realität zu sinken. Das musste ich, denn Sam brauchte meine Hilfe.

"Vom Leben?"

Sie nickte entkräftet, während ich ihr in Gedanken nur beipflichten konnte. Es tat beinahe gut, neben jemandem zu sitzen, der ähnliche Gedanken durchleben musste, auch wenn Sams aktueller Zustand mich mehr beschäftigte, als ich offen vor ihr zugeben wollte.

Das Leben nicht mehr leben zu wollen; verband uns das? Aber warum waren wir dann oberflächlich so unterschiedlich? Sam, die Extrovertierte, und ich, die Introvertierte, hatten mehr gemeinsam, als es auf den ersten Blick schien. Das schien auch meinem Gegenüber bewusst zu werden, denn sie lächelte mich entmutigt an, wobei sie etwas näher rückte.

"Wenigstens können wir zusammen beschissen drauf sein", beschloss sie für sich und lehnte sich zurück, bis ihr Kopf ungewollt heftig auf das Bettgestell knallte, was uns beide zum Grinsen brachte.

"Nicht so ein Ausdruck, Madame", tadelte ich sie spielerisch und war selbst überrascht von meinem plötzlich aufgetauchten Sarkasmus.

"Haste das Geräusch gehört? Klang ganz schön hohl, was?", kicherte sie in verstellter Stimme und zog einige Grimassen, um mich von unserem vorigen Gespräch abzulenken.

Doch ich konnte mich nicht von ihren Worten losreißen. Während ich also belustigt lächelte und an den passenden Stellen mit ihr lachte, musste ich immer wieder an Sams Verzweiflung denken; die Trauer, die sich in ihren Augen gespiegelt hatte. Wie bekam ich sie dazu, mehr von sich preiszugeben und mich ihr helfen zu lassen?

Doch sie schien Gedanken lesen zu können.

"Lass mich raten, Schätzchen. Weil du so 'n sentimentaler Waschlappen bist, stellst du dir wahrscheinlich in diesem Moment tausend Fragen über mich und wie's mir geht. Soll ich dir was anvertrauen? Mit 'Hilfe' meint' ich vorhin keine bekloppten Therapeutenratschläge oder irgendwelche gut gemeinten Tipps, wie ich sie oft ungefragt erhalte, sondern einfach nur deine Präsenz. Dass du hier sitzt und dich von meinem verdammt schrecklichen Humor berieseln lässt, hilft mir mehr als jede Therapiesitzung. Mist, das klang jetzt wahrscheinlich total übersentimental, aber egal. Ich hab's so gemeint."

"Echt? So richtig schnulzig?", neckte ich sie, da ich mir den Kommentar einfach nicht sparen konnte.

"Mit Leonardo diCaprio und 'ner Flasche prickelndem Champagner", bestätigte sie meine gespielte Vermutung und grinste nur zweideutig, während ich mir insgeheim ein Lachen verkneifen musste.

Doch obwohl wir in den nächsten Stunden bewusst von besagtem Thema fernblieben, beschäftigte ich mich ungewollt trotzdem mit Sams Epilepsie. Würde es noch schlimmer werden als jetzt schon? Vielleicht konnte ich ihr ja irgendwie helfen? Diese Fragen beherrschten mein Denken, während ich mich die Nacht über in den Schlaf zu wiegen versuchte.

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt