Kapitel 65

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Ich versuchte es.

Seit drei Wochen gab ich mein Bestes, bemühte mich in der Klinikschule und während meiner Therapiesitzungen, was aufrichtige Begeisterung bei meinen Lehrern und Frau Hendel hervorrief, doch innerlich änderte ich mich kaum. Es war wie ein Schauspiel, in das ich hineingezwungen worden war und von dem ich gefeuert werden würde, sobald meine Leistungen sanken oder ich aus meiner Rolle ausbrach. Doch nun war ich in meinem Leben gefangen und fand nur selten die Gelegenheit, um dem Theaterstück zu entfliehen.

"Ich gehe nach draußen!"

Der Herbst hatte seit einer Woche eingesetzt und allmählich verfärbten sich die sonst so grünen Blätterdächer in warme Töne von Gelb, Orange, Rot und Braun. Diese Jahreszeit war mir schon immer am liebsten gewesen; die angenehmen Temperaturen, die gemäßigten Sonnenstunden und die wunderschöne Natur. Dennoch konnte dieser Zustand nicht über meine Trauer hinwegtäuschen, in der ich noch immer steckte. Kein Tag verging, ohne dass ich an Sam dachte und imaginäre Gespräche mit ihr führte. Vermutlich würde sie mich anschreien und mit einer Bratpfanne nach draußen scheuchen, wenn sie mich so sähe, weshalb ich mich auch endlich zu einem ersten alleinigen Spaziergang hatte überwinden können.

Wäre Sam nun stolz auf mich? Ich hoffte es.

Vorsichtig betrat ich den mit roten Backsteinen gepflasterten und von hohen Büschen umzäunten Weg, der zur Hauptstraße führte. Anders als im Hochsommer war ich nun nicht den erbarmungslosen Sonnenstrahlen ausgesetzt, die sich anfühlten, als würden sie mich verbrennen. Stattdessen herrschte eine leichte Brise, die sanft durch mein Haar glitt und meine Haut streichelte. Der Backsteinweg war wie leergefegt, was mich jedoch nicht störte. Eher war ich froh darüber, die Zeit für mich und meine Gedanken zu haben, während ich einen Fuß vor den anderen setzte und meinem Ziel, dem Park, mit jeder Sekunde näher kam.

In den letzten Wochen hatte sich Evelyn insgeheim zu meiner Leibgarde erklärt, beinahe jeden Tag nur mit mir verbracht und mich fürs Ausmalen von Bildern zu begeistern versucht. Auch wenn ich ihre Versuche unglaublich wertschätzte und tatsächlich froh über ihre Gesellschaft war, da ich mich ansonsten vermutlich in meinen dunklen Gedankenwelten vergraben würde, spürte ich, wie sehr ich diese alleinige Zeit nur für mich brauchte. Nur diese wenigen Minuten bis zum Park, die ich mit mir selber verbringen musste, halfen mir dabei, endlich aufzuwachen.

In den vergangenen Tagen war ich mehrmals für mein deutlich gebessertes Verhalten gelobt und verhätschelt worden, doch mit jedem Lob fühlte ich mich schrecklicher. Sie wussten nicht, was in Wahrheit in mir vorging, und gingen stattdessen gutgläubig davon aus, dass sich schon alles zum Guten wenden würde.

Bei diesen Worten musste ich automatisch an meine Mutter denken; immerhin hatte sie mir diese Floskel immer wieder um die Ohren geschlagen, sobald ich nur meinen Mund zu öffnen versucht hatte. Ich hatte sie nicht gesehen, seit wir das erste Mal seit meiner Einweisung in die Klinik aufeinander getroffen waren. Warum dachte ich während eines solchen Momentes an sie? Ich wollte mich bessern, doch die bittere Realität und die mit ihr verbundenen Menschen schienen mich immer wieder einzuholen.

Hatte meine Mutter von Sams Tod erfahren? Sicherlich wurde eine Rundmail oder ähnliches an alle Eltern der Patienten geschickt, um Missverständnisse zu vermeiden. Meine Mutter hatte beim Lesen der Nachricht vermutlich ihre Hände theatralisch vor den Mund geschlagen und meinem Vater hitzköpfig davon erzählt, sobald er von seiner Arbeit nach Hause gekommen war.

Sie liebte solche Geschichten, obwohl meine Mutter so tat, als wäre sie davon tief betroffen. Vor ein paar Jahren war ein dreijähriges Nachbarskind aus dem Fenster des zweiten Stocks gefallen und hatte sich lebensgefährliche Verletzungen zugezogen, was meiner Mutter eine einmalige Gelegenheit geboten hatte, sich selbst als das Opfer der Situation darzustellen. Sie hätte ja alles mitansehen müssen und dennoch nichts unternehmen können, war damals ihre mit Tränen ausgeschmückte Erläuterung des Geschehens gewesen, obwohl sie zur Zeit des Unfalls überhaupt nicht zu Hause gewesen war. Das wusste jedoch nur ich und erzählte es niemandem.

Warum auch? Man hätte mir so oder so nicht geglaubt und mich auf einmal als die Aufmerksamkeitsheuchlerin dargestellt. So lief es nun einmal in meiner Familie, das hatte ich bereits in jungen Jahren lernen müssen. Jeder hielt sich an gewisse Regeln, die in einer Vorstadt mit klatschfreudigen Nachbarn nun einmal vorgeschrieben waren. Warum meine Eltern sich vor zwölf Jahren dazu entschlossen hatten, hierhin zu ziehen, konnte ich immer noch nicht verstehen.

Vielleicht wäre ja alles anders gewesen; ich wäre keine Außenseiterin geworden, meine Krankheiten wären gar nicht erst entstanden und ich hätte nicht in diese Klinik kommen müssen. Doch gleichzeitig hätte ich Evelyn und Sam nicht kennengelernt. Wahrscheinlich ginge es den beiden aber ohne mich als zusätzliche Last besser, oder?

Ich hatte die Hauptstraße überquert und erspähte in der Ferne bereits das fahle Grün und beginnende Orange der Baumkronen. Nicht mehr lang und ich hätte es geschafft, könnte mich in den Schatten eines Baumes legen und die Augen schließen, müsste an nichts mehr denken und keine Regeln befolgen, die mir von der Außenwelt vorgeschrieben wurden. Ich wäre für einundzwanzig Minuten in Freiheit, bis ich meinen Weg zurück zur Station antrete musste.

Noch immer liefen mir nur sehr wenige Menschen über den Weg; eine Mutter mit Kinderwagen und Smartphone am Ohr, ein gelangweilt schlendernder Hausmeister und ein großgewachsener Jugendlicher auf der anderen Straßenseite. Ich fühlte mich unbeobachtet und summte leise eine Melodie, wobei ich meine Augen schloss und blind dem mir mittlerweile nur allzu gut bekannten Weg zum Park folgte. Zuerst überquerte ich eine Autoeinfahrt, dann wich ich einem Schild aus und bog schließlich nach rechts ab, wobei ich sogleich von der frischen Wiesenluft begrüßt wurde. Nicht mehr lang und ich hätte die Pferdeweiden durchschritten und könnte im kleinen Wald des Parks endlich loslassen. Meine Augen hielt ich noch immer geschlossen und ging weiter den unter meinen Schuhsohlen knirschenden Kieselweg entlang. Ohne mein Augenlicht fühlte, hörte und roch ich alles umso intensiver, sodass ich einfach nur weiterging, ohne mich auf das, was ich sah, verlassen zu müssen. Die Kiesel unter meinen Füßen, das entfernte Wiehern einiger Therapiepferde und der Geruch der hochgewachsenen Wiesenkräuter waren mir Orientierung genug.

Doch plötzlich ertönte vor mir eine Stimme.

"Ich würde dich ja antippen oder an der Schulter fassen, aber ich habe Angst, dass du einen Herzinfarkt bekommst."

Ruckartig öffnete ich meine Augen und erlitt tatsächlich ein Wechselbad der Gefühle. Flint ging rückwärts vor mir und erwiderte meinen erschrockenen Blick aus seinen ungewohnt ruhigen und müden Augen.

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt