Kapitel 99

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Flint hatte sich noch mehr Mühe gegeben als gedacht. Auf dem Dach erwarteten mich warme Flauschdecken und Süßigkeiten, wie ich sie seit Monaten nicht mehr gegessen hatte. Eine Tüte nach der anderen offenbarte sich mir, als ich eine der Decken anhob, um sie um meinen zitternden Körper zu wickeln.

"Wann hast du das alles gemacht? Das ist ja der Wahnsinn!"

Meine Worte ließen ihn rot anlaufen und peinlich berührt in den Himmel gucken, der bereits von einigen Raketen erhellt wurde. Das Prasseln und Zischen der Feuerwerke war mittlerweile ein ständiger Begleiter, dessen Präsenz mit jeder Minute aufdringlicher wurde.

"Die Sachen habe ich letzte Nacht hier hochgebracht. Geplant ist das Ganze aber schon länger", gab er zu und ließ sich neben mir fallen.

"Was heißt denn 'länger'?"

Er hielt inne, seine Kiefer malmten aufeinander. Immer wieder zuckten seine Augen in meine Richtung, aber er traute sich nicht, mich direkt anzusehen. Wieso?

"Seit ich weiß, dass ich morgen entlassen werde. Nach fünf Jahren Aufenthalt."

Entlassen. Morgen.

"Oh."

Ab morgen wäre Flint weg und wir würden uns wahrscheinlich aus den Augen verlieren. So wie bei allen Bekanntschaften, die ich hier geschlossen hatte. Es würde nicht so weitergehen, wir alle gingen eines Tages unsere Wege. Manche von uns würden es schaffen, ihre Krankheiten zu besiegen, andere nicht. Eines stand aber fest: Wir würden nie wieder so viel Kontakt untereinander haben. Evelyn. Arthur. Emily. Alvin. Aber Flint...

"Das kommt jetzt wohl ziemlich plötzlich–"

"Ja."

Ich wollte nicht, dass er ging, obwohl er so hart dafür gearbeitet hatte. Das war schrecklich von mir; ich war eine grauenhafte Freundin. Es war klar, dass das eines Tages passieren würde, und ich sollte mich für ihn, mit ihm freuen. Doch ich konnte einfach nicht. Er würde mir so fehlen.

"Tut mir Leid, das war nicht gerade sensibel von mir. Ähm, du–"

"Nein, rede nicht so einen Quatsch", unterbrach ich ihn und erntete einen verwirrten Seitenblick. "Du hast es dir verdient. Es ist nicht gerade sensibel von mir gewesen, dass ich so doof reagiert hab. Entschuldige, ich weiß nur schon seit längerer Zeit nicht so wirklich, was mich nach der Klinik erwarten wird. Ich habe Angst und dass du jetzt entlassen wirst, gibt mir irgendwie noch mehr das Gefühl, dass die fragile Welt, die ich mir hier aufgebaut habe, zusammenbricht. Und ich habe keine Ahnung, was danach passiert. Nach der Klinik, meine ich."

Ein Rascheln neben mir riss mich aus meinem Geschwafel.

"Vergeben und vergessen. Möchtest du?", fragte er und hielt mir eine Tüte Gummiwürmer entgegen. Ich nahm mir eine Handvoll und stopfte mir gleich mehrere in den Mund. "Schmeckt gut, oder?"

Mein voller Mund erlaubte mir zu seinem Vergnügen keine Antwort, also nickte ich lediglich. Wie auch immer er das hinbekam, aber Flint schaffte es immer wieder, mich aus Situationen des Selbstzweifels und Unsicherheit herauszuziehen und zum Lachen zu bringen. Das würde mir fehlen, wenn er weg war, und so vieles mehr. In den vergangenen Wochen hatte ich mich zumindest noch an die Hoffnung krallen können, dass wir uns irgendwann rein zufällig über den Weg laufen oder einander zumindest sehen, aber sein Auszug brachte so viel mehr Raum zwischen uns. Es würde an ein Wunder grenzen, wenn wir noch irgendwie Kontakt hielten.

"Wohin gehst du jetzt?", wollte ich wissen und zupfte einen pink und gelb gestreiften Gummiwurm auseinander.

Bitte nicht zu weit weg.

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt