Kapitel 30

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Nein.

Das durfte nicht passieren.

In mir tobte ein Kampf, der mich auf dem verbleibenden Weg zur Station verfolgte und in Beschlag nahm. Der Zwiespalt wurde größer und einnehmender, doch ich drückte ihn von mir.

Das Mädchen war nicht ich.

Ich war nicht das Mädchen.

Es war ganz allein mir überlassen, was ich mit meinem Leben und meinem Körper anstellte. Nur weil sie sich für den dunklen Abgrund entschieden hatte, in den sie nun mit jedem Tag ein klein wenig tiefer rutschte, galt das gleiche nicht für mich.

Ich konnte meine eigenen Entscheidungen fällen.

Mein eigenes Schicksal bestimmen.

Meine eigene Person sein.

"Ich schaffe es von hier aus allein, danke für ihre Unterstützung."

Mit diesen Worten richtete ich mich zu meiner vollen Größe auf und ging zielsicher auf den Stationseingang zu. Vom Flur sah ich bereits Herrn Perkins und Herrn Olsen im Büro der Betreuer sitzen, die sich gerade bei einer Tasse Kaffee unterhielten und nebenbei Dokumente abarbeiteten. Sobald ich jedoch vor der geschlossenen Tür stand und durch die Fensterfronten sichtbar wurde, hoben sie gleichzeitig ihre Köpfe und sahen mich an, als wäre ich aus einem Comic entsprungen.

Ich wusste, ich wirkte anders auf sie, denn ich fühlte mich anders.

"Hallo, Scarlett; lang nicht mehr gesehen", begrüßte mich Herr Perkins zögernd, nachdem er die Tür geöffnet hatte und zu mir in den Gruppenraum getreten war. "Möchtest du etwas, sollen wir oder ich dir bei etwas behilflich sein?"

"Ich würde gerne den Unterricht besuchen."

Wäre ich nicht gerade in meiner Entschlossenheit gefangen, hätte mich der Gesichtsausdruck meines Betreuers zum schreienden Lachen verleitet, doch die Angelegenheit war mir zu ernst, was nun auch Herr Perkins zu begreifen schien. Sein erst o-förmiger Mund glättete sich zu einem sanften Lächeln, die weit aufgerissenen Augen kehrten wieder zu ihrer ursprünglichen Größe zurück und seine Stirnfalten verschwanden. Trotzdem schien er kritisch über meine Entscheidung zu denken.

"Scarlett, bist du dir sicher? Ich weiß nicht, ob du wirklich schon bereit für diesen Schritt bist-"

"Ich bin bereit."

Nervös strich er sich über die blaugrün gestreiften Ärmel seines Pullovers.

"Naja, die schriftliche Einverständniserklärung von Frau Hendel haben wir ja den Formalitäten zugute schon... Aber, oje, ich bin mir da wirklich noch etwas unsicher, verstehst du mich? Da wir kein übriges Personal haben, müsstest du den Weg zur Schule allein finden und sie liegt außerhalb des Klinikgeländes. Traust du dir das wirklich zu? Auch den Rückweg musst d-"

"Meine Güte, Pierce, jetzt lass das Mädchen doch zum Unterricht gehen, wenn sie möchte!"

Nun schaltete sich Herr Olsen ein, der mir aufmunternd zulächelte und Herr Perkins zurück ins Betreuerbüro drängte. Dieser murrte zuerst nur etwas grimmig, doch gab schließlich den Forderungen nach und verzog sich mit eingezogenem Kopf zurück vor den Computer.

"Weißt du, ich finde das wirklich toll von dir. Das ist ein großer Schritt, damit hat Herr Perkins definitiv Recht, doch", und dabei sah er mich eindringlich an, "ich vertraue dir, daher übernehme ich auch gerne die Haftung für dich, ja?"

Sprachlos nickte ich.

"Gut. Für die Schule brauchst du eigentlich nichts Großartiges, nur etwas zum Schreiben. Die Schnellhefter und restlichen Schulsachen bekommst du alle von der Klinikschule gestellt. Ich könnte gleich mal in deiner Akte nachsehen, in welche Kurse und bei welchen Lehrern du eingeteilt bist; falls gerade etwas passt, kannst du dich sofort dazugesellen."

Gesellen?

Würde es wie in einer wirklichen Schule sein? Mit über zwanzig Schülern, eng nebeneinander gedrängt in nur einem Raum? Auf einmal wurde mir heiß und ich begann, an meiner spontanen Entscheidung zu zweifeln. Was, wenn ich viel zu früh den Mund geöffnet hatte? Vielleicht hätte ich mir noch ein paar Tage Überlegungszeit gönnen sollen, bevor ich mich an andere wende?

"Wie viele Patienten sind denn in einem Kurs?"

"Oh, mach dir da mal keine Sorgen. Meistens sind es nur zwei bis drei, manchmal aber auch vier. Wir haben freiwillige Helfer wie beispielsweise pensionierte Lehrer oder Studenten, daher können wir das in solch kleinen Gruppen anbieten. Toll, oder?"

Meine Brust zitterte, als ich schwunghaft und voller Erleichterung ausatmete.

Zwei bis drei, manchmal vier. Das könnte ich aushalten.

"Ja, das ist schön."

Das war es wirklich.

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt