Kapitel 59

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Ich war mir nicht sicher, wie viel Zeit vergangen war, doch unser Gespräch fand kein Ende. Hatten wir ein Thema abgeschlossen, tat sich sofort ein neues vor uns auf, über das wir ausgiebig sprechen konnten. Der Himmel über uns verdunkelte sich bis Mitternacht noch weiterhin, doch daran störten wir uns nicht. Wichtig war nur, die Stimme des anderen zu hören. Irgendwann konnte ich es jedoch nicht mehr zurückhalten und ich stupste ihn vorsichtig an, woraufhin er mit einem fragenden Grunzen reagierte.

"Tut mir Leid, dass ich das jetzt alles zerstöre, wenn ich frage, aber-"

"Du willst wissen, warum ich dich hierhin mitnehmen wollte."

Stumm nickte ich, wurde mir dann aber bewusst, dass er mich in der Dunkelheit nicht deutlich genug sehen konnte, und erwiderte eine kurzangebundene Bestätigung.

"Ich will dich auch wirklich nicht runterziehen, doch um ehrlich zu sein beschäftigt es mich sehr. Wir haben wochenlang nicht miteinander geredet und dann tauchst du wortwörtlich aus dem Nichts auf und bittest mich, mitten in der Nacht nach draußen zu kommen, was hier eigentlich strikt verboten ist. Wieso?"

Auf diese Worte folgte ein nachdenkliches Schweigen seinerseits und ich befürchtete bereits, zu weit gegangen zu sein, als er endlich die langersehnte Antwort formulierte.

"Mir geht es nicht sonderlich gut und ich", an dieser Stelle hörte er auf, doch ich animierte ihn durch einen Stupser zum Weiterreden. "Naja, irgendwie habe ich unsere Gespräche vermisst. Mir hat das immer sehr geholfen."

Ich hatte ihm helfen können?

"Wie helfe ich dir denn?", fragte ich zaghaft, denn ich war mir nicht sicher, wie weiter ich in dieses sensible Terrain vordringen durfte.

"Mit dem Bewältigen der Welt um mich, schätze ich mal."

Ungeduldig berührte ich ihn erneut.

"Weißt du, Flint? Du darfst nicht einfach immer interessante Themen anschneiden, dann aber kein Wort mehr über sie verlieren. Bitte rede weiter."

Scheinbar frustriert wandte Flint sich mir zu, soweit ich seine Schemen interpretieren konnte.

"Ich bin aber nicht gut im Reden."

Augenblicklich musste ich lächeln. Die Vorstellung, dass Flint sich für uninteressant hielt, obwohl die Gespräche mit ihm mir genauso sehr halfen wie sie ihm, war einfach zu skurril.

"Das kann ich nicht beurteilen, wenn du es nicht einmal versuchst", neckte ich ihn spielerisch und wartete begierig auf seine Stimme.

"Die Welt ist ganz schön beschissen, weißt du? Alles geht nur um Geld, Macht und Schönheit. Wo immer du hinguckst, welchen Aspekt du auch betrachtest; es dreht sich immer um mindestens eines dieser Dinge. Nichts im echten Leben passiert einfach so, alles ist geplant. Wo ist die Spontanität? Das natürliche Abenteuer? Der Menschenkontakt ohne Smartphones und ständige Erreichbarkeit? Die Möglichkeit, das mit seinem Leben anzufangen, was man selbst möchte, ohne von anderen dafür abgestempelt oder verurteilt zu werden? Je mehr man darüber nachdenkt, desto wütender wird man, und genau das ist mir passiert. Ich bin wütend. Wütend auf mich, wütend auf meine sogenannte Familie, wütend auf diese Anstalt, wütend auf alles. Irgendwann hat es begonnen, den eigentlichen Flint zu verschlingen und herausgekommen ist dieses aggressive Monster, das manchmal die Überhand gewinnt. Nicht nur die Welt ist beschissen, ich bin es auch."

Diese Sätze musste ich erst einmal sacken lassen. Was könnte ich nun sagen, um dem gerecht zu werden? Wären simple Worte genug, um auszudrücken, wie sehr ich mit ihm fühlte, ihm zustimmte und mich mit ihm verbunden fühlte? Ich wusste die Antwort auf diese Fragen nicht und schwieg deshalb, doch es war keine unangenehme Stille. Wir beide wussten, dass der Gegenüber das gleiche dachte. Noch nie in meinem Leben hatte ein anderer Mensch so passend meine Gefühle, Ansichten und Ängste beschrieben.

"Wäre ein Sonett vielleicht schonender gewesen?", unterbrach Flint schließlich die Ruhe und brachte mich dazu, mich an meinem Lachen zu verschlucken.

Immer wieder schaffte er es, eine traurige, melancholische oder nachdenkliche Situation heiterer zu gestalten, ohne zu aufdringlich zu sein. Er verstand die Balance, die ich brauchte, um nicht in ein tiefes Loch zu fallen, und dafür war ich ihm unfassbar dankbar.

"Nein, ich fand es so schon ganz gut. Roh und ehrlich. Aber warum Wut? Wieso keine Trauer?"

Auf einmal wurde er wieder reservierter, antwortete aber dennoch.

"Ich habe schon genug getrauert, bis ich irgendwann nichts mehr gefühlt habe. Diese komplette Leere macht mir Angst, daher bin ich lieber wütend. Dann fühle ich etwas, auch wenn es nichts Gutes ist. Ich fürchte mich vor dem Gefühl, als hätte man jegliche Lebensenergie verloren und würde sie nie wieder finden. Da ist es für mich besser, genügend Lebensenergie zu haben, um sich wünschen zu können, jemandem die Faust ins Gesicht zu schlagen, als zu nichts mehr Lust zu haben."

Flint wirkte resigniert und erschöpft, weshalb ich nicht weiter auf das Thema eingehen wollte. Auch sonst war ich zu müde, um zu reden, weshalb ich ihn einfach vorsichtig am Oberarm berührte. Ein stummes Zeichen dafür, dass ich ihn verstand und seine Gedanken nachvollziehen konnte. Plötzlich wurde ich jedoch komplett überwältigt, als Flint mich zu seiner Brust und in eine feste Umarmung zog. Ich hörte nichts mehr außer seinem schnellen Herzschlag, der sich immer weiter verlangsamte, bis er schließlich einen eingängigen Rhythmus beibehielt. Vorsichtig hob ich meine Arme und schloss sie um seinen Oberkörper, der mich augenblicklich wärmte und beruhigte. Wieso ich wegen des Körperkontakts keine Panikattacke bekam? Ich wusste es nicht.

So saßen wir für einige Minuten, bis uns das Geräusch eines Lieferwagens aus den Gedanken riss und wir uns hastig voneinander trennten. Es hatte gut getan, mit jemandem reden zu können und eine Umarmung zu spüren, doch der Alltag rief wieder nach mir. Wie lange hatten wir auf dem Dach gesessen? Meinem schmerzenden Hintern nach schon einige Stunden.

"Ich glaube, ich sollte jetzt gehen", flüsterte ich Flint zu und musterte sein Gesicht, das in der sich ankündigenden Morgendämmerung schon deutlich besser zu erkennen war.

"Bis dann, Scar."

Einige Minuten später hatte ich es geschafft, ohne weitere Probleme zurück in mein Stationszimmer zu gelangen. Mein Herz pochte immer noch vor Nervosität und der Angst, erwischt zu werden, doch die Freude über das Gespräch mit Flint überwog die negativen Gefühle, die mich begleiteten. Schnell huschte ich unter meine Bettdecke und bemühte mich, die letzten Stunden dieser Nacht noch zum Schlafen zu nutzen, doch irgendetwas fühlte sich komisch an. Schließlich erkannte ich die Fehlerquelle.

Sam schnarchte nicht.

Vorsichtig stand ich erneut aus meinem Bett auf und näherte mich dem meiner Mitbewohnerin, doch in der Dunkelheit, die durch die vorgezogenen Vorhänge entstand, konnte ich nur Umrisse erkennen. Schließlich entschloss ich mich dazu, Sams Nachtlicht anzumachen, und schreckte mit einem stummen Schrei zurück.

Ihre Augen waren tränenverklebt, überall klebte ihr Speichel und ihre Haut hatte eine rot-bläuliche Farbe angenommen.

Sam atmete nicht.

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt