Kapitel 98

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Ohne darüber nachzudenken, ob meine Mitbewohnerinnen aufwachen könnte, sprang ich auf und warf mich in seine geöffneten Arme. Vergessen waren meine Angst vor Körperkontakt, die Zukunftsängste, die mich noch gerade fest im Griff hatten, und das merkwürdige Verhalten der Nachtschicht.

Flint war da.

"Wie hast du– Warum bist du– Was–"

"Ich erzähle dir gleich die ganze Geschichte, komm mit", unterbrach er mich und spähte in den Gemeinschaftsraum in Richtung der Eingangstür, durch deren Milchglas in weiter Entfernung ein schwaches Licht auszumachen war. "Jetzt müssen wir erst einmal nach draußen."

"Nach draußen? Ich hab meine Schlafsachen an!" Mein Gehirn arbeitete so langsam, als wäre ich von einem Lastwagen überfahren worden.

Wie hatte er es nur hierhingeschafft? Neptun war die bei weitem am besten überwachte Station. Überall im Gemeinschaftsraum, aber auch im Betreuerbüro und dem Eingangsbereich hingen Kameras. Er war doch verrückt, dass er hier einfach eingebrochen war! Ich wollte gar nicht über die Konsequenzen nachdenken, die ihn – nein, uns – erwarteten, wenn man uns erwischte.

Flint ging sicheren Schrittes voran, ignorierte die Überwachungskameras und drehte sich erst um, als er kurz vor der Eingangstür stand. "Kommst du?"

Das machte alles keinen Sinn. "Aber die Nachtschicht hat doch die Schlüssel. Man kann die Tür nicht einfach mit einem Dietrich aufmachen, dafür nehmen die Betreuer sogar noch einen Magnetchip. Wie bist du überhaupt reingekommen?"

Er zog sich seelenruhig einen Stuhl am Esstisch hervor und setzte sich mit einem Blick hin, der von innerer Ruhe und Gewissheit geradezu strotzte. Erst jetzt hatte ich die Zeit, ihn wirklich anzusehen. Es schien, als hätte er gesundes Gewicht zugenommen. Sein Körper wirkte selbst in den dunklen Klamotten nicht mehr so spindeldürr, seine Augen guckten wach und waren nicht mehr blutunterlaufen wie bei unseren letzten Treffen und seine Haare hatte er sich einige Zentimeter abgeschnitten. Sie hingen ihm nicht mehr ins Gesicht und waren beinahe schulterlang, sondern glänzten und reichten nicht länger als bis zu seinem Kinn. Flint wirkte äußerlich wie ein vollkommen anderer Mensch.

"Nun", sagte er mit gedämpfter Stimme und warf einen Blick zu den anderen Zimmertüren, als wolle er sichergehen, dass niemand ihn hörte, "die Nachtwache hat zwar die Eingangstür abgeschlossen, aber nicht das Fenster im Betreuerbüro, das zum Flur geht."

"Im Ernst? Du bist hier reingeklettert?"

"Richtig geraten."

Ich war mir nicht sicher, ob ich zurückgrinsen oder ihn zusammenfalten sollte.

"Flint, das ist gefährlich, was wenn die beiden zurückkommen?"

Er stand wieder auf und schob den Stuhl zurück an den Tisch, nur um mich mit einer Handbewegung in das Betreuerbüro zu führen. Das Fenster maß höchstens einen Quadratmeter Fläche und war tatsächlich sperrangelweit offen. Flint stieg auf die davor platzierte Sitzbank und sah zu mir zurück.

"Die werden nicht zurückkommen, jedenfalls für eine ganze Weile. Möchtest du zuerst oder soll ich?"

"Bist du verrückt?"

"Ist das eine ernstgemeinte Frage?"

Ich konnte mir ein Lachen nicht mehr verkneifen. Verdammt, er schaffte es immer noch. Das hatte sich nicht verändert.

"Dann gehe eben ich voraus", stellte er theatralisch seufzend fest und stieg durch das Fenster, während ich noch immer glucksend mitten im Büro stand und ihn bei seinen ungelenken Bewegungen beobachtete. Endlich hatte er es geschafft und empfing mich von der anderen Seite. "Darf ich bitten?"

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt