Kapitel 23

3.7K 452 39
                                    

Scar.

Dieses Wort hallte mir noch Stunden nach unserem Treffen im Kopf nach, denn Flint hatte Recht mit dem, was er gesagt hatte. Ich war übersäht mit Narben aller Art, die mich bei jedem Schritt und jedem Atemzug an ihre schmerzliche Anwesenheit erinnerten. Sie würden nie wieder vollends verschwinden, dessen war ich mir mittlerweile bewusst.

Nachdem wir noch einige Minuten dagesessen hatten, verabschiedete ich mich von Flint und ging den Weg zur Station zurück. Alle paar Minuten fuhr ein Auto gemächlich den Hauptweg des Klinikgeländes entlang, doch von ein paar Patienten und Betreuern abgesehen kreuzte niemand meinen Weg.

Da es Samstagnachmittag war und die restlichen Patienten ihr Wochenende mit der Familie verbringen konnten, war ich die einzige zu betreuende auf Jupiter. Als ich durch den Innenhof ging und schließlich vor der Tür stand, die mich zum Gruppenraum führen würde, hielt ich innerliche inne und atmete noch einmal tief durch.

Es war das erste Mal seit ich denken konnte, dass ich mich von einem Außenstehenden verstanden gefühlt hatte. Dieses warme Gefühl war ungewohnt und es fiel mir schwer, mich daran zu gewöhnen, doch vielleicht würde es morgen auch bereits verschwunden sein.

Warum interessierte Flint sich überhaupt so für mich?

Ich rätselte weiter, während ich mich mit meinem vollen Körpergewicht gegen die schwere Eingangstür lehnte und durch den so entstehenden Spalt hindurchhuschte. Das hell erleuchtete Betreuerbüro schien momentan nicht besetzt zu sein, also konnte ich in Ruhe mein abgedunkeltes Zimmer betreten und mich erneut in meine Bettdecke einlullen.

Doch mir war die Stille nicht vergönnt.

Meine Gedanken wurden wieder von Dunklerem beherrscht, denn kaum kam ich zur Ruhe, fühlte ich mich beobachtet.

Scarlett.

Mit klopfendem und schnell pulsierendem Herzen richtete ich mich aus meiner schutzlosen Position und presste meinen Rücken gegen die kahle Zimmerwand.

Warum war mir kein Moment der Ruhe vergönnt? Wie sollte ich mich konzentrieren oder beruhigen können, wenn mein eigener Geist mir immer wieder Streiche spielte?

Das Mädchen war nicht da. Woher kam die Stimme?

Scarlett.

"Nein, nein, nein...", murmelte ich beschwörend, während ich mich langsam vom Bett löste und in Richtung des Lichtschalters tappte. Das musste aufhören. Meine Hände fuhren wirr die raue Wand entlang, doch sie stießen auf keinen Widerstand. Wo war der verdammte Lichtschalter?

Endlich fand ich den kleinen Knopf.

Sobald ich ihn berührte, wurde mein gesamtes Zimmer in flutendes Licht getaucht, welches mich zuerst wie immer blendete, doch nach einigen Momenten des angespannten Stillhaltens angenehmer wurde. Es war kein Brennen mehr in meinen Augen, ich fühlte mich nicht unwohl wie sonst und konnte tatsächlich meine Umgebung einsehen.

Langsam und immer noch etwas unsicher über diese Umstellung trat ich in die Mitte des Raumes und blickte um mich. Die Stimme war verschwunden und das Mädchen war immer noch unauffindbar. Obwohl ich stark bezweifelte, dass dieser Ruhezustand dauerhaft bestehen würde, bewegten sich meine Mundwinkel automatisch nach oben, während ich mich auf meinen Atem konzentrierte und mein Innenleben langsam friedlicher wurde. Ich unterdrückte mein stummes Lächeln nicht, das sich auf meinem Gesicht ausbreitete.

Nach einigen Momenten der Stille wand ich mich dem kleinen Schreibtisch zu, der am Fußende meines Bettes stand. Ein kleiner wackeliger Stuhl stand davor, auf den ich mich langsam niederließ. Im Zeitraum meines bisherigen Aufenthalts hatte ich mich nie an den Tisch gesetzt und stattdessen reglos im Bett gelegen, doch das wollte ich jetzt nicht mehr.

Und so saß ich da, auf dem kleinen wackeligen Stuhl, und dachte nach. Über mich, die Klinik, die Therapie, meine Familie und Flint. Was war gerade passiert?

Ich wusste es nicht.

Doch ich wusste, dass es gut war.

Ein Blumenstrauß an Krankheiten | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt