-Kapitel 60-

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Gracie schnieft, wischt sich mit dem Ärmel über das Gesicht und starrt dann nach oben zu dem grauen Himmel um ihren Tränen zu entkommen. Meine Beine werden ganz weich, ich fange an mein Gewicht von einem auf das andere zu balancieren. Ich kann nichts weiter tun, als sie anzustarren. Ihre blonden Haare wirken in dem geflochtenen Zopf kürzer als sie eigentlich sind. Unter ihren blauen Augen liegen dunkle Augenringe, wie unter meinen auch. Ihr schwarzes Kleid verdeckt ihren dünnen Körperbau, generell wirkt sie mit ihren Kräften am Ende.

»So war es nicht«, schnieft sie und sieht mir mit aufgequollenen Augen ins Gesicht. »Was meinst du?«, frage ich irritiert.

»Das ich dich nicht sehen wollte. So war es nicht.« Ich möchte direkt etwas darauf antworten, doch kann es nicht. Meine Gedanken überschlagen sich und ich runzle verwirrt die Stirn. Gracie wollte mich sehen, nachdem mein Dad als Verdächtiger festgenommen wurde? Sie wollte mich sehen, obwohl der Verdacht bestand, dass Joshua mit Hilfe meines Dads mit dem Hinterkopf gegen den Bordstein gefallen ist? In meinem Verstand war die ganze Sache immer ganz verdreht.

»Ehrlich? Du wolltest mich sehen?«

»Wir waren Freundinnen.« Sie schluckt. »Ja, aber ich habe immer geglaubt du würdest auch denken, dass mein Dad etwas mit dem Unfall am Hut hat.« Gracie spielt an ihrem Ärmel herum und zuckt nach einer längeren Pause mit den Schultern. »Habe ich das jemals gesagt? Also das ich ihn beschuldige?«

Im nächsten Moment fährt ein dunkles Auto an den Straßenrand, genau hinter Gracie. Sie schreckt auf und sieht zu dem Auto, nickt dem Fahrer zu und strafft die Schultern.

»Es tut mir leid, Luna. Aber ich muss jetzt gehen.« Als sie schon Anstalten macht zu gehen, greife ich nach ihrem Handgelenk und ziehe sie in eine Umarmung. Etwas steif erwidert sie meine Geste, mein Herz donnert gegen ihrs. Was ich hier tue, weiß ich nicht genau. Es fühlt sich richtig an. Der Duft von frischer Orange, der von ihrem Shampoo kommt, hat mir die ganzen Jahre unbewusst gefehlt.

»Es tut mir so leid«, flüstere ich und sie legt ihre Arme fest um meinen Rücken, dann löst sie sich von mir. Bevor sie ins Auto steigt, lächelt sie mich ganz schwach an. Ich winke ihr nicht zum Abschied zu, sondern warte nur, bis das Auto außer Sichtweite ist.

»Was war das denn?« Conner und Meghan erscheinen neben mir. Einen Moment starre ich noch ins Leere, dahin, wo das dunkle Auto verschwunden ist.

»Ich habe mich bei der Sache mit Gracie total geirrt.« Ich rapple mich wieder zusammen, sehe meine Freunde an und entscheide meine Grübelei auf später zu verschieben. »Also um fünf Uhr muss ich meinen Dad holen und um sechs startet die Grillparty bei uns Zuhause. Gehen wir so lange Pizza essen?«

»Ich glaube du hast andere Pläne.« Irritiert sehe ich Conner an, der daraufhin den Zeigefinger hebt und auf etwas hinter mir deutet. Langsam drehe ich mich um, suche nach der Person oder nach dem etwas, was Conner meint. Wenige Meter von mir entfernt steht Drew mit einem Strauß Blumen in der Hand. Mein Herz macht einen Satz, meine Mundwinkel gehen in die Höhe und ich schüttle grinsend mit dem Kopf.

»Wir sehen uns nachher bei dir Zuhause.« Hinter mir höre ich Schritte, wahrscheinlich wie Meghan und Conner den Platz verlassen, um Drew und mich allein zu lassen.

Als ich mich wieder gesammelt habe gehe ich Schritt für Schritt vorwärts. Je näher ich ihm komme, desto aufgeregter werde ich. Ich habe Drew zuletzt gesehen, kurz bevor die Verhandlung begonnen hat. Er saß in der hintersten Reihe zusammen mit Jamie, Meghan und Conner. Ich dachte er wäre nach der Anhörung nach Hause gefahren, aber das ist wohl auch eins der Dinge, in denen ich mich getäuscht habe.

»Ich war mir nicht sicher, ob du mich heute sehen möchtest.« Ich gehe mit schnellen Schritten auf ihn zu, schlinge meine Arme um seinen Hals und drücke ihm, ohne etwas auf seinen Satz zu antworten, meinen Mund auf seinen. Drew fackelt keine Sekunde, schlingt auch seine Arme um meinen Rücken und drückt mich fest an sich ran, sodass kein Blatt mehr zwischen uns passen würde.

Seine Lippen bewegen sich in einem langsamen Rhythmus auf meinen, ich fühle das Kribbeln bis in meine Füße. Als Drew seine Zunge in meinen Mund stößt seufze ich tief und lasse meinen Oberkörper gegen seinen Sinken, weil ich mich selbst nicht länger halten kann. Alles was in den letzten Stunden passiert ist verblasst vor meinem inneren Auge. Das Dad auf Kaution frei ist, das mit Cole heute Morgen und auch das merkwürdige Gespräch mit Gracie. Drew bringt mich mit seiner Nähe, seinen Küssen und seiner Anwesenheit an einen anderen Ort und verleiht mir das Gefühl schweben zu können. Es ist nicht zu erklären, das Einzige was zählt ist, dass er hier ist.

Als ich keine Luft mehr bekomme löse ich meinen Mund von seinen und kralle mich mit meinen Händen oben an seinem Kragen fest. Ich hebe meinen Kopf an, stelle mich auf Zehenspitzen und genieße den Anblick seines geröteten Gesichts. Er wird es nicht zugeben, aber auch er bekommt nach unseren Knutschereien ein rotes Gesicht.

»Danke, dass du noch hier bist.« Er legt mir seine raue Handfläche an die Wange, legt seinen Kopf etwas schief und lächelt mich an. »Denkst du ernsthaft ich würde dich an so einem Tag allein lassen?«

»Keine Ahnung. Ich habe mich gestern echt daneben benommen.« Ich meide den Augenkontakt und streiche seinen Kragen glatt, um mich irgendwie beschäftigen zu können. Dabei blüht mein ganzes Herz auf, ich werde mich wohl nie an seine präsente Nähe gewöhnen können.

»Du hast dich nicht daneben benommen. Du warst nur sehr still und zurückhaltend.« Drews Hand fährt langsam meinen Rücken auf und ab.

»Ja, weil ich dachte etwas würde sich zwischen uns ändern, wenn wir wieder zurück sind. Ich wollte es nicht noch schmerzhafter machen.« Ich schlucke, das eklige Gefühl macht sich in meinem Bauch breit. Das gleiche Gefühl, welches mich die ersten Monate nach Dads Verhaftung begleitet hat. Zu wissen, dass sich geliebte Menschen von einem abwenden, ist eins der schrecklichsten Gefühle und das möchte ich wegen Drew nicht erleben. Bei ihm würde es noch viel mehr weh tun.

»Hey.« Sein Daumen streift mein Kinn, dann hebt er meinen Kopf leicht an. Nur widerwillig sehe ich in seine Augen, bewundere den Glanz in seiner Iris. Die braunen Farben vermischen sich zu einer Einheit, sie wirken beinahe Gold. Die hellen Sprenkel in seinen Augen waren mir vorher nie so ganz aufgefallen. »Lass uns jetzt nicht darüber reden. Dein Dad kommt frei, darauf solltest du dich konzentrieren.« Ich nicke, mein Blick zuckt andauernd von seinen Augen zu seinem Mund und wieder zurück.

»Kommst du zur Grillparty?« In meinem Magen flackert etwas auf. Ich stufe es als Angst ein, Angst, dass er absagen könnte. Drews Hand landet auf meiner Wange, er malt kleine Kreise auf meine gerötete Haut.

»Soll ich?«

»Ja«, sage ich wie aus der Pistole geschossen. Er fängt an zu lachen, leckt sich über die Unterlippe und bringt dann einen Schritt Abstand zwischen uns beide. »Das erinnert mich an was.« Er zückt den mittlerweile verdeckten Blumenstrauß hinter meinem Rücken hervor und reicht ihn mir. Es ist ein Blumenstrauß aus rosanen Lilien.

»Sie sind schon etwas eingedrückt, aber während ich überlegt habe, ob du mich sehen willst, habe ich einen Blumenladen gesucht und habe den für dich besorgt.«

Lächelnd nehme ich ihm die Blumen ab und rieche an ihnen.

»Das ist so süß von dir.« Grinsend sehe ich ihn wieder an, doch er verzieht angewidert das Gesicht. »Kein Typ möchte von einem Mädchen als süß betitelt werden.« Er rümpft sich die Nase. Kichernd rieche ich noch einmal an den bezaubernden Blumen und lecke mir dann über die Lippen, lege den Kopf schief und sehe ihn etwas teuflisch an.

»Aber du bist süß, Drew.«

»Das reicht!« Grinsend nimmt er mir den Blumenstrauß aus der Hand, versteckt ihn hinter seinem Rücken und macht einen Schritt zurück. Als ich provokant auf ihn zu gehe, streckt er seine freie Hand in meine Richtung um mich vom Gehen abzuhalten.

»Gib die Blumen zurück!«

»Erst wenn du das mit dem süß zurücknimmst, Luna Moore.«

»Vergiss es«, lachend versuche ich an die Blumen ranzukommen, doch er lässt es nicht zu. »Sag es!«, fordert er grinsend.

»Mein Dad meinte, man darf keine Lügen erzählen!« Plötzlich ändert sich seine Mimik, er wird beinahe todernst. Er bleibt wie angewurzelt stehen und zuckt nicht, als ich mir den Strauß schnappe und siegessicher aufschreie.

Wie sehr mich mein Dad mit diesem Sprichwort hintergangen hat und wie sehr Drew tatsächlich daran beteiligt ist, zeigt sich schneller als ich dachte.

-Losing Game-Όπου ζουν οι ιστορίες. Ανακάλυψε τώρα