-Kapitel 73-

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»Hi«, krächze ich eine Ewigkeit zu spät und bemerke, wie staubtrocken mein Hals ist. Gracies Hand liegt noch auf dem Türgriff, sie könnte mir jeden Moment die Tür vor der Nase zuknallen, doch sie tut es nicht.

»Was führt dich hier her?« Sie umklammert ihre Brille an der Seite und setzt sie sich lieber auf den Kopf. Wie ich es vermutet habe, möchte sie immer noch nicht mit ihr gesehen werden, dabei bin ich es, mit der sie spricht. Damals hatte sie sich nie geschämt.

»Ich möchte mit dir reden. Also nur wenn du Zeit hast und Lust. Du musst mich nicht rein bitten, ich kann es verstehen, wenn du mich nicht sehen möchtest«, fasle ich wie am Band und hole dann tief Luft. Ich brauche dringend etwas zum Trinken.

»Ist Himbeer-Traum immer noch dein Lieblingstee?« Sie scheint meine Gedanken lesen zu können. Etwas irritiert mustere ich ihr Gesicht, ihre Mundwinkel gleiten langsam nach oben.

»Ehm, ja.« Gracie tritt zur Seite und deutet mir in einer Handbewegung zu, dass ich eintreten soll. Mit einem mulmigen Gefühl betrete ich ihr Haus und schaue mich im ersten Moment stumm um. Alles hier wirkt genau wie früher, sogar die Einrichtung ist gleich geblieben. Rechts führt ein Gang zu dem Schlafzimmer ihrer Eltern, die Türen stehen allesamt geschlossen. Links befindet sich das Badezimmer und wenn man geradeaus, durch einen hohen Holzbogen läuft, gelangt man in das Wohnzimmer, welches an der offenen Küche grenzt. Neben dem Holzbogen führt eine dunkle Treppe nach oben, wo sich Gracies Zimmer befindet und auch das ihres Bruders. Der Geruch von frischem Kaffee und Pinienzapfen dringt durch meine Nase und ich bekomme nicht genug von dem vertrauten Duft. Er erinnert mich an eine Zeit, in der noch alles okay war. Eine Zeit, in der ich mit einer Leichtigkeit durchs Leben gehen konnte. Ohne Verluste, ohne zu leiden und ohne Kompromisse.

»Lass uns in die Küche gehen.« Gracie steuert den Weg zum besagten Raum an, mit kleinen Schritten folge ich ihr. Während sie den Teekocher mit Wasser füllt und schließlich anschaltet, bleibe ich mitten im Wohnzimmer stehen und lasse meinen Blick über alles schweifen. Allgemein ist die Einrichtung der Karters in einem dunklen Ton, was an den älteren Möbeln liegt. Gracies Eltern sind was das angeht noch ziemlich in ihrer eigenen Zeit damals festgefahren und sie stehen nicht auf Trends. Sie mögen es klassisch und sind kein Fan von Veränderungen. Deswegen wundert es mich auch nicht, dass jedes Möbelstück genau wie damals ist. Die dunkelbraune Couch ist mit unzähligen Kissen bedeckt, auf dem niedrigen Tisch davor, lümmeln einige Zeitschriften. Der Flachbildfernseher, der an der Decke hängt, ist vermutlich eines der einzigen Dinge hier, die unserer Zeit entsprechen. Der Fernseher läuft und zeigt eine Folge von the vampire diaries. Ein Schmunzeln huscht über meine Lippen, dann wende ich mich Gracie zu.

»Hast du es denn endlich geschafft die letzte Folge zu schauen?« Gracie ist gerade damit beschäftigt zwei Tassen aus dem Schrank zu fischen. Ihr Blick zuckt zu mir, ihre Lippen deuten ein Lächeln an.

»Was denkst du denn? Ich kenne jede Folge bis zur letzten auswendig und so wird es bleiben.« Ich fange an zu kichern und schüttle energisch den Kopf. Damals fingen wir beide zusammen an, die Serie zu schauen und daraus wurde eine Sucht. Als Gracie für eine Woche bei ihren Großeltern war, konnte ich nicht auf sie warten und suchtete die kompletten Staffeln durch. Die letzte Folge hatte mich mental völlig fertiggemacht und davon berichtete ich Gracie sofort. Sie wollte, dass ich ein wenig Spoiler, was ich auch tat. Danach war sie wütend auf mich und weigert sich bis zum heutigen Tag, die letzte Folge anzusehen.

»So schlimm ist die Folge gar nicht.«

»Ehrlich? Das klang damals nämlich ganz anders, als du mich heulend bei meinen Großeltern angerufen hast.« Ich hebe ergebend die Hände in die Luft. Gracie kommt mit den zwei Tassen Tee auf mich zu, läuft jedoch an mir vorbei, um sie auf den Couchtisch zu stellen.

»Wo sind deine Eltern?« Meine Nervosität scheint zurückzukehren und damit ich nicht mehr so unbeholfen im Raum rumstehe, laufe ich rüber zu der Couch und lasse mich darauf nieder. Gracie tut es mir gleich, der Abstand zwischen uns könnte gar nicht größer sein. Sie sitzt an einem Ende und ich an dem anderen Ende der Couch.

»Sie sind bei Freunden zum Brunch eingeladen«, antwortet sie knapp. Sie greift nach der Fernbedienung, um die Lautstärke etwas runterzufahren. Ehrlich gesagt bin ich froh darüber, dass sie den Fernseher nicht komplett ausschaltet. So sind noch genügend Hintergrundgeräusche im Raum, auch wenn zwischen Gracie und mir Stille herrscht.

»Okay.« Ich schaffe es nicht in Gracies Richtung zu schauen, viel lieber halte ich meinen Blick auf meinen Schoß gesenkt. Aus dem Augenwinkel erkenne ich wie sie sich nach vorne beugt um sich ihre Tasse zu schnappen. Nach einem kurzen zögern tue ich es ihr gleich und balanciere das warme Porzellan zwischen meinen Fingern. Die Wärme tut gut, ich lege meine Hände drum herum und halte es einfach nur fest. Zum Trinken wird es noch zu heiß sein.

»Worüber möchtest du mit mir sprechen, Luna?« Gracie wirkt mindestens genau so nervös wie ich. Ich erkenne es an ihrer Stimme, die leicht am Zittern zu sein scheint.

»Eigentlich über alles. Die letzten Tage gingen mir so viele Gedanken durch den Kopf und schon in den Monaten davor wollte ich immer mit dir reden, nur habe ich mich nicht getraut und irgendwie traue ich mich immer noch nicht. Ich habe das Gefühl mich zum totalen Affen zu machen, dabei will ich dir doch einfach nur sagen, wie leid es mir tut.« Die Bombe war geplatzt und ich ziehe scharf die Luft ein. Meine Muskeln verspannen sich und die Tasse zwischen meinen Fingern beginnt zu beben an, da ich so unruhig bin. Ein kurzer Blick in Gracies Richtung verrät mir, dass sie stumm in ihre Tasse starrt. Da sie nichts antwortet, führe ich meinen Satz fort und versuche nicht darüber nachzudenken, was aus meinem Mund kommt.

»Ich hätte dich nach dem Vorfall mit Joshua nicht hängen lassen sollen, Gracie. Du warst am Boden zerstört, kamst die ersten Wochen nicht in die Schule und du hast dich von allen zurückgezogen. Mir ging es genauso, ich konnte nicht mehr. Alle Freunde haben sich von mir abgewendet, Cole verschwand uhrplötzlich von der Bildfläche und ich hatte kein Zuhause mehr. Ich habe innerhalb einer Nacht alles verloren, kam in eine fürchterliche Pflegefamilie und hatte keine Familie mehr. Mein Leben wurde schlichtweg aus den Angeln gezogen, trotzdem hätte ich das mit dir nicht so Enden lassen sollen. Ich wollte zu dir und dir beistehen, immerhin hast du eine wichtige Person deines Lebens für immer verloren und ich nur vorrübergehend. So oft wollte ich dich anrufen, oder einfach hier auftauchen, aber ich brachte es nicht über mich. Die Angst, dass du mich genau wie die anderen anschaust und auch an die Schuld meines Dads glaubst, war zu groß für mich. Irgendwie habe ich versucht dich als meine beste Freundin in Erinnerung zu halten, damit ich nicht daran kaputt gehe.« Es wird still im Raum, nur die Stimmen vom Fernseher hallen leise durch die Wände. Ich nippe an dem Tee um mich irgendwie zu beschäftigen, Gracie scheint lange über meine Worte nachzudenken, doch je länger sie fürs Antworten braucht, desto hibbeliger werde ich. Mein Puls hat sich schon während dem Sprechen verdreifacht, zum Glück trinke ich gerade Tee und keinen Kaffee. Koffein wäre wirklich das letzte was ich gerade gebrauchen könnte.

»Ich hätte mich auch bei dir melden sollen«, unterbindet sie schließlich die Stille. Mein Blick fackelt zu ihr nach oben und auch sie beäugt mich mit einem schwachen Lächeln.

»Nicht nur du hättest dich bei mir melden sollen, sondern auch ich bei dir. Wir haben beide auf verschiedene Weisen einen geliebten Menschen verloren, aber ich denke, es war normal, dass wir uns beide erst einmal zurückgezogen haben. Ich habe mich nicht nur von dir zurückgezogen, sondern von jedem. Ich hätte dich Fragen sollen, wie es dir geht und mir tut es auch leid. Du hast mich zwar noch nie danach gefragt, aber ich denke nicht, dass dein Dad schuldig ist. Es war ein Unfall und niemand hätte es verhindern können.«

Wir schrecken gleichzeitig hoch, als die Lautstärke des Fernsehers lauter wird, da gerade jemandem in der Serie das Herz rausgerissen wurde. Mein Herz hämmert von dem Schock gnadenlos in meinem Brustkorb, etwas von dem Tee landet auf meiner Jeans. Schnell atmend sehe ich zu Gracie rüber, die auch noch ganz erschrocken zu sein scheint. Ein paar Sekunden starren wir uns an, dann fallen wir in ein sprudelndes Gelächter.

-Losing Game-Where stories live. Discover now