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Das Leben zwingt dich dazu, Entscheidungen zu treffen. Und erwachsen zu werden, bedeutet, eigenständig Entscheidung zu treffen.
Ich fahre mit den Handflächen über mein verschwitztes Gesicht.
Es ist eine gefühlte Ewigkeit her, dass ich durch unser Viertel gejoggt bin.

Ich bin noch nie gut in impulsiven Entscheidungen gewesen.
Aber gerade stehe ich mit dem Rücken zur Wand und muss eine Wahl treffen.
Die letzte Nacht hielt nur wenig schlaf für mich bereit - und das lag nicht nur an dem Fakt, dass sich Ben kurz nach Mitternacht aus dem Haus geschlichen hat.

Ich bleibe stehen und stütze mich vorgebeugt auf meinen Knien ab, ringe gierig nach Luft.
Meine Kondition ist wirklich eine Lachnummer, aber die Seitenstiche sind eine willkommene Abwechslung zu dem sonst präsenten, beklemmenden Gefühl in meiner Brust.
Ich werde Jace helfen.

Ich muss Jace helfen.
Ich kann ihn nicht einfach küssen und ignorieren, dass ich danach in die Augen eines Obdachlosen schaue. Und ich habe die Möglichkeiten. Das Letzte, was ich will, ist es, über finanzielle Mittel zu verfügen und sie nur für mich und zu meinen Zwecken einzusetzen.
Meine schmerzenden Füße tragen mich zurück nach Hause, die Treppe hoch in mein Zimmer.

Ich gehe nicht mal unter die Duschen, bevor ich mein Handy vom Schreibtisch ziehe.
Mein Blick bleibt an einem Foto hängen, dass ich im Park aufgenommen habe.
Es zeigt das Geflecht der mächtigen Baumkrone der alten Eiche. Sonnenstrahlen dringen wie flüssiges Gold zwischen den zarten Blättern hindurch.

Ich drücke die Schultern nach hinten und klicke auf den gesuchten Kontakt.
Nach dem dritten Klingeln hebt sie ab.
"Ophelia mein Liebling! Wie schön, dass du dich mal wieder bei deiner alten Tante meldest!"
Ein Lächeln breitet sich über meinem Gesicht aus, als ich ihre freudige, laute Stimme vernehme.

"Hallo Tante Jennifer", sage ich und durchquere mein Zimmer, öffne ein Fenster.
Draußen bellt ein Hund und das Vogelgezwitscher in den Bäumen kommt mir plötzlich viel geräuschvoller vor.
Nach dem üblichen Smalltalk, Fragen, wie es mir geht, was die Uni macht und ob ich mich schon auf meinen Geburtstag freue, unterbreite ich ihr mein Anliegen.

"Es gibt einen Grund, warum ich dich anrufe."
Mein Finger fährt über die weiße Fensterbank, spurt die Maserung des Holzes nach.
"Das dachte ich mir. Was hast du auf dem Herzen?"
Jennifer ist die ältere Schwester meiner Mutter und hat selbst keine Kinder. Was für mich und Ben schon immer ein großer Vorteil gewesen ist, da all ihre Liebe und Zuneigung uns gegolten hat.

"Steht deine Wohnung in Fitchburg immer noch leer?"
Am anderen Ende der Leitung ist ein begeistertes Aufatmen zu hören.
"Willst du etwa ausziehen? Natürlich ist die Wohnung ungenutzt, ich bin doch so gut wie gar nicht mehr in der Stadt."

Ich höre, wie sie aufsteht und beginnt im Raum auf und ab zu laufen.
Ich räuspere mich.
"Die Wohnung wäre nicht direkt für mich. Ein Freund von mir braucht Hilfe und ... ich dachte -"
"Ah! Du brauchst nicht mehr zu sagen, mein Liebling. Ich werde dir die Schlüssel zukommen lassen. Dekoriert um, was ihr wollt. Ich würde mich freuen, wenn in diese vier Wände mal wieder etwas Leben kommt."

Erleichtert lasse ich mich auf das Bett fallen und wische mir über die verschwitze Stirn.
Mein Gedankengang ist einfach: Die Wohnung meiner Tante ist schon seit Jahren unbewohnt, aber möbliert.
Mit Beträgen von meinem Sparkonto könnte Jace einige Zeit mehr als gut über die Runden kommen.

"Ah, nur den Teppich im Wohnzimmer, den lasst ihr bitte unangetastet. Ich habe ihn damals aus Peru mitgebracht", sagt sie und holt mich aus dem Strudel meiner Gedanken.
An ihrem plötzlich weich gewordenen Ton, kann ich ihr warmes Lächeln gerade zu nachempfinden.

Jennifer hat zwar keine Kinder, aber dafür eine Menge Zeit zum Reisen.
Als ich und Ben noch kleiner waren, hat sie manchmal ein halbes Jahr im Ausland verbracht und eine Postkarte nach der anderen geschickt.
Damals. Als alles noch irgendwie gut war.

Ein trauriges Lächeln hebt meine Mundwinkel und ich betrachte meine Fotos an der Pinnwand.
"Da wäre noch etwas", sage ich dann. "Bitte erzähl Mom und Dad nichts davon."
"Ein Geheimnis also?"
Eine kleine Pause entsteht, als ich nicht antworte.

"Keine Soge. Meine Lippen sind versiegelt."
Erleichtert atme ich auf und danke ihr einmal zu viel.
Ich bin schon dabei mich von ihr zu verabschieden, nachdem sie mir versichert hat, den Schlüssel noch heute mit der Post zu schicken, da unterbricht sie mich.

"Ophelia? Dieser Freund kann sich sehr glücklich schätzen dich zu haben, wirklich. Ich kenne nicht viele Menschen, die so etwas tun würden."
Ich wünschte, ich könnte sie umarmen. Es ist schon viel zu lange her, dass ich sie gesehen habe und erst jetzt bemerke ich, wie sehr ich sie doch vermisse.

"Und nicht jeder hat so eine tolle Tante, die ihre Wohnung zur Verfügung stellt", gebe ich zurück.
"Das ist nicht der Rede wert. Sag mir, wenn ich mich noch irgendwie nützlich machen kann, dir zum Beispiel den Rücken freihalten, wenn du und ... dieser Freund mal die Stadt verlassen wollt."
Ich verdrehe die Augen.

Die Art wie sie 'Freund' ausspricht, sagt mir, dass sie mir kein Wort glaubt, dass es sich nur um einen Freund handelt.
"Grüß deinen Vater von mir - oder nein, besser nicht."
Sie lacht, bevor sie die Verbindung unterbricht.

Langsam lasse ich mein Handy sinken und lege es auf meiner Bettdecke ab.
Jetzt muss Jace nur noch einwilligen, die Wohnung zu beziehen, Hilfe anzunehmen.
Wie ich ihn dazu kriege, weiß ich selbst noch nicht. Ich habe Angst, dass er denkt, dass ich all das nur tue, weil er mich geküsst hat.

Ich bekomme Bauchschmerzen, wenn ich daran denke, dass ich diese Unternehmung ohne jegliche Rücksprache mit meinem Vater machen werde.
Seit dem Vorfall mit seinen Partnern haben wir kaum ein Wort gewechselt.
Ich bin ihm mehr oder minder aus dem Weg gegangen, weil ich einfach nicht weiß, wie ich mich ihm gegenüber verhalten soll, nachdem ich mich ihm widersetzt habe.

Mein Bein wippt in einem Achteltakt auf dem Fußboden.
Es ist mein Konto, mein Sparbuch.
Meine Eltern haben es für das Studium, den Mini und als Sicherheit anlegen lassen und mir zu meinem 18. Lebensjahr überschrieben.

Seither kann ich mit dem Geld rein theoretisch und rein rechtlich alles machen, was ich will.
Moralisch aber habe ich versprochen vor jeder großen Anschaffung Rücksprache mit ihnen zu halten.
Ich klammere mich an meinen Oberarmen fest und lege den Kopf in den Nacken.
Jace würde durch einen festen Wohnsitz eine Arbeit bekommen und recht schnell etwas zur Verpflegung und den Nebenkosten dazu steuern können.

Ich könnte ihm eine zweite Chance im Leben geben, die er ohne mich vielleicht nie bekommen würde.
Ein Fluch kommt über meine Lippen.
Ob ich das Richtige getan habe, wird sich zeigen.

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Song: Time - Angelo De Augustine

Hoiii :3

HAPPY PRIDE MONTH Y'ALL

Es ist spät, again. Was soll ich sagen.. außer Hope u enjoyed <3

Glaubt ihr, Jace nimmt die Wohnung an?

Stay kind,
All my Love,
Lisa xoxo

almost Hate [ᴬ ᴸᵒᵛᵉˢᵗᵒʳʸ]✔Where stories live. Discover now