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Ich blicke auf. Isabell hockt sich vor mich. Ihre grünen Augen betrachten mich, eine Emotion in ihnen, die ich von ihr nicht kenne.
Tue ich ihr gerade leid? Will sie mich trösten?
Seit Jace in diesem Zimmer liegt, hat sie genauso viele Worte mit mir gewechselt, wie zu Beginn unseres Kennenlernens.

Sie schluckt hörbar und ich wische mir über die Augen, will ihr Gesicht klar vor mir sehen, um keine Regung darin falsch zu verstehen.
"Er soll aufhören so zu leiden", sage ich mit gebrochener Stimme und bohre meine Fingernägel in die Handflächen.
Ich muss den innerlichen Schmerz ausgleichen.

"Ich ertrage es nicht ihn so zu sehen, das ist nicht unser Jace."
Unser Jace. Ich will mein Jace sagen, aber da erinnere ich mich, wer Isabell ist. Seine Schwester. Ein Mensch, der mit Jace aufgewachsen ist und ihn für verloren geglaubt hat. Ich habe den Frühling und den Sommer mit ihrem Bruder verbracht, während er für sie nicht mehr existierte.

Ich lehne den Kopf zurück und versuche meinen Atem zu kontrollieren, schließe die Augen.
Ich sehe Jaces bleiche Hände, wie sie sich in die Bettdecke krallen und noch mehr Magensäure aus seinem Mund herausspritzt.
Seine einst so leuchtenden Augen klein und geschwollen. Ein kaum noch sichtbarer Schatten seiner selbst.

Ich presse die Augen fester zusammen, versuche dieses Bild zu vertreiben, es durch schöne zu ersetzen, aber es klappt nicht.
Also schaue ich in das grelle Licht der Deckenlampe.
Isabell setzt sich neben mich, ihre Schulter gegen meine gepresst.

"Es ist nicht fair", sage ich und fahre über die nasse Haut an meinem Hals.
"Ich weiß", flüstert sie.
Sie vergießt keine Träne. Ihre Hände liegen entspannt auf ihren angezogenen Beinen, aber ich kann sehen, dass sie jeden Muskel in ihrem Gesicht und Oberkörper verkrampft. Sie kämpft mit sich.

Sie muss jetzt stark sein.
Da drin sitzt ihre weinende Mutter am Bett ihres sterbenden Bruders. Sie muss da sein, wenn Margret sich nicht mehr halten kann, wenn Jace seinen Kampf verliert.
Ich drücke meine Faust gegen die Stirn.

"Nichts im Leben ist wirklich fair, wenn du es so betrachtest. Leben wird genommen und Leben wird gegeben. Was du daraus machst, ist nicht immer allein deine Entscheidung: Menschen treffen Entscheidungen für dich oder das Leben entscheidet."
Ihre Stimme ist beruhigen.

"Jace hat sich entschieden, mich und meine Mutter zu verlassen. Konnte ich daran etwas ändern? Nein. Er hat uns verlassen, weil er uns das da drinnen nicht antun wollte. Und trotzdem sitzen wir jetzt bei ihm. Wird er das als fair erachten, wenn du ihn fragst? Nein. Weil das Leben nicht fair ist."
Isabell wischt sich mit einer schnellen Bewegung eine Träne aus dem Augenwinkel.

"Es ist nicht fair, dass er uns ausgesperrt hat, aber er hat es getan, weil er es für das Beste erachtet hat. Es ist nicht fair, dass du ihn jetzt so sehen musst. Es ist nicht fair, dass ausgerechnet er diesen scheiß Krebs haben muss!"
Sie legt eine Hand auf mein Knie und drückt kurz zu.

Ich sehe, wie sie mit sich kämpft. Im Gegensatz zu mir erhält sie ihre Mauern aufrecht. Wenigstens so lange, bis sie allein ist.
Ich habe sie gestern Nacht im Auto gesehen und wie sie auf das Lenkrad eingeschlagen hat. Ich habe eine junge Frau gesehen, die für einen kurzen Moment die Fassung verloren hat. Und sie hat mich an mich selbst erinnert.

Ihre grünen Augen sehen mich herausfordernd an. Sie hat eindeutig denselben Dickschädel wie ihr Bruder.
Ich vergesse das Blinzeln, stimme ihr auch nicht zu, schaue einfach nur tief in ihre Augen und versuche darin mehr und mehr Teile von Jace zu finden, an denen ich mich festhalten kann.
In diesem Moment wünsche ich ihr von ganzem Herzen, dass sie diese lebendigen Augen mit dem sturen Widerstand darin nie verliert.

"Es ist nicht fair, wenn ein geliebter Mensch stirbt", sagt sie.
"Nein", flüstere ich.
"Aber er wird sterben, Ophelia. Alles, was wir jetzt tun können, ist für ihn da zu sein. Denn nur das ist ihm gegenüber fair."

Wir teilen einen Blick, der mehr sagt, als die verzweifelten Worte, die in meinem Kopf umherschwirren.
Aus einem Impuls heraus lehne ich mich vor und schließe Isabell in meine Arme. Sie ist sichtlich überrumpelt und legt unbeholfen einen Arm um mich.

Ihr kurzes Haar streicht über meine geschwollenen Lippen und kitzelt mich an der Nase.
"Danke", flüstere ich und lasse sie wieder los.
Sie presst ihre Lippen aufeinander und nickt.
Wir sitzen noch eine ganze Weile schweigend auf dem Krankenhausflur und lauschen den dumpfen Geräuschen um uns herum, bis Isabell sich langsam aufrichtet.

"Komm, gehen wir wieder rein. Du bereust es sonst, wertvolle Zeit mit ihm verloren zu haben."
Sie streckt mir ihre Hand entgegen.
Ungläubig blicke ich zu ihr auf.
"Jetzt komm", befiehlt sie mit Nachdruck, als wäre ich ein kleines Kind, das sich die Nase an der Süßigkeitentheke platt drückt.

Meine Beine fühlen sich nicht so an, als würden sie zu mir gehören, als ich wieder aufrecht vor Isabell stehe.
Mit jedem Schritt Richtung Tür kehrt die tonnenschwere Last auf meinen Schultern Stück für Stück zurück.
"Du musst jetzt stark sein. Für ihn."

Wir tauschen einen letzten Blick, wobei sie ein Lächeln versucht und die Türklinke herunterdrückt.

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Song: Mountains of the Moon - Bayou

Und das nächste Kapitel, das gefühlt nach Sonnenuntergang hochgeladen wird - im Ernst, heute ist es bei mir gar nicht erst hell geworden! Und es regnet.

Wie ist das Wetter bei euch so?

Ich wurde gerade in meinem Lese-Flow unterbrochen, weil bei uns Blumen für die Nachbarin abgegeben wurden. Ein potthässlicher Strauß....

k, see ya, durch eure lieben Kommentare arbeite ich mich langsam ABER SICHER!!! :)

All my Love,
Lisa xoxo

almost Hate [ᴬ ᴸᵒᵛᵉˢᵗᵒʳʸ]✔Where stories live. Discover now