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Am Donnerstagmittag betrete ich völlig fertig unser Haus und werde von der üblichen Stille empfangen.
Ich sauge die saubere Luft ein und trete die Schuhe von meinen Füßen.
Alles, was ich jetzt nach diesem langen Tag in der Uni machen will, ist, mich aus meiner Bluse schälen - die ich seit gestern trage - und mir eine lange, ausgiebige Dusche gönnen.

Heute Morgen konnte ich zwar bei Jace duschen, aber ich musste mich sehr beeilen, da wir verschlafen hatten.
Das heißt, ich habe verschlafen, weil ich nicht daran gedacht habe, dass neben Jaces Bett kein Wecker mit meiner Weckzeit steht.

Ich werfe meine Autoschlüssel auf die Kommode in der Eingangshalle und bewege mich voller Vorfreude zur Treppe. Doch ich habe die Rechnung ohne Benno gemacht.
"Sieh mal einer an, wer wieder Zuhause ist und uns mit ihrer Anwesenheit beehrt."
Ohne in seine Richtung zu blicken, verdrehe ich die Augen.

Im Stillen schließe ich mit mir selbst eine Wette darüber ab, dass mein Bruderherz immer noch in Schlafklamotten vor mir steht.
Als ich mich zu ihm umdrehe, gewinne ich die Wette.
Ben steht in Boxershorts und einem T-Shirt mit blutrotem Aufdruck vor der Wohnzimmertür.

In der Hand balanciert er einen Teller. Sein Gips gehört mittlerweile der Geschichte an.
"Dein Mittagessen? Oder doch eher dein Frühstück?", frage ich und beäuge das Sandwich, dass nur aus Ketchup und einer Scheibe Käse zu bestehen scheint.
"Netter Versuch", lacht er freudlos auf. "Ausnahmsweise geht es mal nur um dich, Ophelia."

Ben verstellt seine Stimme und klimpert mit den Augen.
Ich weiß, dass er denkt, dass ich den Mittelpunkt genieße und gerne Papas-Liebling bin.
Für ihn entspricht diese Vermutung der Realität, weil er mich so unter keinen Umständen auch nur einmal bemitleiden muss.

Ich rümpfe die Nase und wende mich zum Gehen.
"Interessiert es dich denn gar nicht, was gestern noch alles so passiert ist? Was Mom alles so von sich gegeben hat?"
Ich beiße auf meine Zunge und verkrampfe mich. Nicht nur wegen des Schmerzes, der durch meinen Mund schießt.

Ehrlich gesagt, habe ich das total verdrängt; Mom, ihre Ankunft. Ihr Glas Wasser und Dads Standpauke.
Meine Augen finden die verquollenen, braunen Kugeln in Bens Gesicht. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass er geweint hat. Sogar seine lange Nase ist gerötet.

"Möchtest du mich vielleicht darüber aufklären, was noch so spannendes passiert ist?", frage ich spitz.
Mein Geduldsfaden ist kurz vor dem Zerreißen.
Egal wie glücklich ich dieses Haus auch betrete, nach kürzester Zeit wird mir diese Empfindung ausgetrieben, wie ein böser Geist, der in diesen vier Wänden nicht erwünscht ist.

Ben schüttelt den Kopf. Sein Brot droht auf den Boden zu fallen.
"Die Frage ist eher: Wo warst du letzte Nacht? Und wie lange denkst du, werde ich Dad noch verschweigen, dass du dich in der Weltgeschichte herumvögelst?!"
Ich reiße meine Augen auf.
Wie kann er es wagen!

"Sag so etwas nicht noch mal! Du hast kein Recht dazu, mir so etwas zu unterstellen! Und überhaupt ... Selbst wenn es so wäre, ich glaube, ich bin dir keine Rechenschaft schuldig. Ist ja nicht so, als ob wir miteinander über irgendetwas sprechen würden."
Meine Worte treffen ihn.

Das erkenne ich an dem emotionslosen Gesichtsausdruck, der jetzt wieder Besitz über ihn ergreift.
Ben straft die Schultern.
"Schön."
"Schön", erwidere ich kalt.
Ich bin so sauer auf ihn, dass er mir schon wieder, zum zehntausendsten Mal, meine Laune verdorben hat.

Ich habe schon die ersten drei Stufen erklommen, da erklingt seine Stimme ein weiteres Mal und hallt von den hohen Wänden der Eingangshalle wieder.
"Wenn du geblieben und nicht davon gelaufen wärst, dann wüsstest du, dass Mom in einem Hotel gelebt hat."

almost Hate [ᴬ ᴸᵒᵛᵉˢᵗᵒʳʸ]✔Where stories live. Discover now