11.

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Bereits am Dienstagabend steht mein geliebter Mini wieder in unserer Auffahrt.
Dennoch entscheide ich mich am Mittwoch ein letztes Mal mit der Bahn zu fahren - zur Missgunst meines Vaters.
Zum Glück hat er nicht genug Zeit mich in ein Kreuzverhör zu nehmen und rauscht aus unserer Küche wie ein übermotivierter Chef.

Ich erkenne Bens Umrisse vor dem Gästebad, doch ich habe keine Chance ihm etwas zuzurufen, er verschwindet so schnell, wie er aufgetaucht ist.
In den letzten Tagen habe ich ihn kaum zu Gesicht bekommen.
Wahrscheinlich wurde er von Dad ordentlich in die Mangel genommen, weil er mit meinem Auto gefahren ist.

Ben geht nicht gut mit Kritik um.
Und genau das ist der Grund, warum er sonst immer mit Samthandschuhen angefasst wird.
Ich schlucke den Rest meines Müslis und stelle die Schale neben Mirella in die Spüle.
Sie schenkt mir ein gutmütiges Lächeln und wünscht mir einen schönen Tag.

Wenn sie nicht für uns arbeiten und den Haushalt machen würde, gäbe es in diesen vier Wänden keinerlei weibliche Handschrift. Sie sorgt wenigstens ein bisschen dafür, dass sich das hier wie ein Zuhause anfühlt.
Es ist Jahre her, dass meine Mutter sich die Mühe gemacht hat, einen Blumenstrauß aufzustellen oder den Tisch liebevoll für ein Familienessen zu decken.

Ich schüttle den Kopf, schüttle die Gedanken zurück in die hinterste Ecke meines Bewusstseins, wo sie hingehören und ziehe meinen Mantel über.
Bevor ich das Haus endgültig verlasse, mache ich ein Foto von der Morgensonne, die ihr helles, gelbes Licht auf unsere Garderobe fließen lässt.

"Frühlingssonne" taufe ich den Schnappschuss vom flüssigen Gold, dann poste ich ihn.
Doch die Frühlingssonne begleitet mich nicht auf meinem Weg zum zugigen Bahnhof. Sie versteckt sich hinter Wolken und ich verfluche das Wetter in Wisconsin.
Der Bahnsteig ist wie immer zu dieser frühen Stunde überfüllt.

Kinder und Jugendliche drängen sich dicht an dicht.
Ich halte mich persönlich für verrückt und weiß, wie unlogisch es ist, ein letztes Mal mit dem Zug zu fahren, nur um Jace vielleicht noch einmal zu sehen.
Ich weiß, dass er sich hier in der Gegend aufhält.

Ich weiß nicht, was er macht.
Ich weiß nicht, wo er wohnt.
Und ich weiß auch nicht, ob meine Freunde nicht vielleicht doch recht haben und meine Vermutung doch zu trifft und er ... obdachlos ist.

Auch an diesem Morgen fehlt jede Spur von ihm.
Es ist über eine Woche her, dass ich ihn gesehen habe.
Ich versuche mich an seine Haare zu erinnern und wie sie im kalten Wind zu schweben schienen.
Sein Gesicht hat so gepflegt gewirkt, es sah gut aus, wenn die Sonne in seine grünen Augen fiel.

Immer wenn ich es mir wieder in Erinnerung rufe, streite ich jedes Argument ab, das bekräftigt, er könnte ein Obdachloser sein.
Jace hat mir den Schreck meines Lebens eingejagt, als er mir meine Tasche entrissen hat.
Trotzdem sagt mir etwas in meinem Inneren, dass er kein gemeiner Taschendieb mit Ungeziefer ist, wie AJ behauptet.

Ein großer Rucksack, abgetragene Schuhe und Kleingeld aus einem Plastikbecher machen einen Menschen nicht gleich obdachlos.
Ich schaue mich ein weiteres Mal nach allen Seiten um, dann bahne ich mir den Weg zum Fahrkartenautomaten.

Viele der Menschen hier tragen schwarze Regenjacken, aber keine sitzt so locker um die Schultern des Besitzers, wie die von Jace.
Keiner hier hat so lange Beine und zerschrammte Lederboots an den Füßen.
Trotzdem können meine Augen nicht aufhören die Umgebung zu scannen.

Als ich eine zehn Dollarnote in den Automaten gesteckt habe, schaue ich auf den Boden.
An jenem Montagmorgen lag hier diese graue Wolldecke.
War es seine gewesen und hat er sie nach unserem Zwischenfall in seinem Rucksack verstaut?
Hat er die Nacht auf diesem zugigen Bahnhof verbracht?

"Bist du fertig?"
"Was? Oh, ja, Entschuldigung", sage ich und fische schnell mein Ticket aus dem Automaten.
Eilig trete ich beiseite und mache dem grimmig dreinschauendem Mann Platz.
Ein letztes Mal lasse ich den Blick über die Menge schweifen, nicht sicher, was ich wirklich finden will.

Dann geselle ich mich zu ein paar Schulkinder, die lärmend vor dem Gleisbett stehen.
Wenn Jace jetzt hier wäre, könnte ich ihre hohen Stimmen ausblenden und mich auf seinen tiefen, ruhigen Ton konzentrieren.
Ich würde versuchen, Desinteresse zu zeigen und meinen Blick schweifen lassen, so wie ich es auf dem Nachhauseweg getan habe, bei dem er mich begleitet hat.

Und die ganze Zeit über würde mir eine leise Stimme sagen, dass ich all diese Bemühungen unterlassen kann, weil er weiß, dass ich nur so tue, dass ich versuche, ihn nicht die ganze Zeit über anzustarren.
Er konnte mich lesen.

Beinahe beschwörend warte ich auf das Kribbeln im Nacken, weil mich jemand beobachtet.
Weil Jace mich beobachtet.
Ich will, dass er hinter mir wie aus dem Nichts auftaucht, mir erzählt, wohin er unterwegs ist, wo er arbeitet.
Und ich will, dass er mich fragt, mit welchem Zug ich zurückkommen werde, damit er auf mich warten und nach Hause begleiten kann.

Aber die Bilder, die ich sehe, spielen sich in meinem Kopf ab.
Sie sind ein wirres Puzzle aus Geschehenem und Fantasie.
Und je öfter ich mir solche Szenarien in den letzten Tagen ausmale, desto weniger weiß ich, was davon wirklich passiert ist.

Haben sich unsere Hände berührt?
Waren seine Finger rau und kalt?
Hat er nach Wald und Rauch gerochen oder war das nur in mein Traum der Fall?
Hat er mich wirklich von der Seite beobachtet oder habe ich mir das im Nachhinein eingebildet?

Warum vermisse ich ihn mit jedem Tag, der vergeht, mehr?
Ich kenne ihn nicht.
Ich presse die Augen zusammen, als ich den Zug aus der Ferne eintreffen höre.
Es ist Erlösung und Enttäuschung zu gleich.

Jetzt habe ich nur noch die Hoffnung auf heute Nachmittag.
Vielleicht arbeite er im Schichtbetrieb und erste heute Nachmittag werden sich unsere Wege kreuzen.
Ich schüttele den Kopf und werde von einigen der lärmenden Kinder angerempelt, die sich auf die Zugtüren stürzen, wie auf das letzte Stück Kuchen.

Ich sollte vernünftig sein und mich lieber von AJ nach Hause fahren lassen, damit ich nicht mehr solchen Sehnsüchten verfallen kann.
Das hier ist Schwachsinn!
Ich bin lächerlich!

Dieses Mal bekomme ich keinen Sitzplatz.
Ich muss mir mit anderen Nachzüglern den engen Bereich vor dem Abteil teilen.
Die ganze Fahrzeit lang starre ich hoch zur Decke und zähle die kleinen Punkte in den Platten über mir.

Ich hätte mein Auto nehmen sollen.
Jace ist weitergereist.
Ich werde ihn nie wieder sehen und mein Leben wird weiter gehen wie bisher. So wie seins.
Ein kleiner Junge mit braunen Haaren schaut zu mir auf.

Als ich ihm einen bösen Blick zu werfe, wendet er sich schnell ab und ich seufze.

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Song: fallingforyou - The 1975 (meine Lieblingsband <3)

Good afternoon my sweeties :)

Nun ... hat Ophelia das richtige getan, als sie sich für die Bahn entschied?

Mal was ganz anderes - Ich habe das Poetry Buch von Halsey "I would leave me if I could" zu Ostern bekommen und lese jetzt immer mal wieder ein paar Seiten.
Für alle die intense Poetry mögen und die sich auch nicht daran stören ein Gedicht nicht gleich auf anhieb zu verstehen, kann ich das nur empfehlen :)

An Halsey: Für diese Werbung hätte ich jetzt gerne ein bisschen Money gesehen. Bitte Dankeschön.
xD

feel hugged, bis morgen loves!
All my Love,
Lisa xoxo

almost Hate [ᴬ ᴸᵒᵛᵉˢᵗᵒʳʸ]✔Where stories live. Discover now