86.

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Die letzte Pflanze verschwindet in der Erde und ich betrachte stolz und mit dreckigen Händen mein Werk.
Alle Töpfe in der Wohnung sind mit grünem Leben gefüllt. Neben Grünlilien und einem Drachenbaum haben wir auch noch eine Sanseveria gekauft, von deren langen, festen Blättern ich immer noch fasziniert bin.

Jace lehnt hinter mir im Türbogen und beobachtet mich dabei, wie ich vom Boden aufstehe.
"Lass, das mache ich", sagt er bestimmt, als ich den Handfeger aufnehme.
Ich werfe ihm einen dankenden Blick zu.
"Was sagst du?", frage ich zufrieden und breite die Arme über mein vollendetes Werk aus.

Der Braunhaarige lacht auf und zuckt dann mit den Schultern.
"Grüner?", lacht er.
Ich verdrehe die Augen und gehe auf ihn zu, schlinge meine Arme um seinen Oberkörper. Es kümmert mich nicht, dass ich damit auch ihn mit Erde besudele.
Seit Montagnacht hat sich etwas zwischen uns verändert. Wir sind uns irgendwie näher.

Ich lege den Kopf in den Nacken und blicke hoch in seine Augen.
Seine gebräunte Haut legt sich in kleine Falten, als er auf mich herunter grinst.
"Da ist noch etwas, was ich dir sagen wollte ..."
Ich löse mich von ihm und beobachte sein Gesicht dabei, wie es sich verwandelt. Sorge tritt auf seine Züge.

"Ich bin ganz Ohr, kleine Ophelia."
Ich mache einen Versuch, ihm gegen den Oberarm zu schlagen, doch er weicht mir aus, ein schelmisches Grinsen im Gesicht.
"Ich habe meiner besten Freundin von dir erzählt."
Überraschung schlägt mir entgegen.

"Und ... na ja, sie will meinen Geburtstag nachfeiern, richtig nachfeiern. Und dazu bist du eingeladen."
Ich wische meine mit Erde beschmutzen Finger an meiner Hose ab und sehe Jace verunsichert an.
Seine Stille gefällt mir nicht. Wenn er mitkommen würde, hätte er schon längst etwas gesagt.
"Du könntest sie kennenlernen. Ich meine, das wäre vielleicht ganz schön und ..."

Seine Augen und die zusammengezogenen Brauen bringen mich zum Schweigen.
"Das ist lieb gemeint, Ophelia, wirklich, aber ich glaube nicht, dass eine Party der richtige Ort für mich ist."
Ich schlage den Blick nieder.
"Verstehe", sage ich leise.

Manchmal vergesse ich, dass er ...
Ich dränge den Gedanken beiseite und blicke wieder zu ihm auf.
"Ich wollte es dir auch nur vorschlagen. Ist nicht schlimm."
Er greift nach meiner Hand, seine vergleichsweise kühlen Fingerspitzen prickeln auf meiner verschwitzten Haut.

"Doch", erwidert er schmerzlich, "das ist es und es tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen."
Er seufzt tief und ich hasse mich dafür, diesen idyllischen Nachmittag mit dieser dummen Frage überschattet zu haben. Denn ich kenne seine nächsten Worte bereits, bevor er sie ausspricht.
"Genau das meinte ich. Ich werde dich enttäuschen müssen, immer und immer wieder. Wir sind in dieser Hinsicht nicht auf derselben Wellenlänge und ich will dich dadurch auf gar keinen Fall ausbremsen."

Die Qual in seiner Stimme überhöre ich für den Moment.
"Du hörst dich an, als wärst du hundert Jahre alt", sage ich etwas erdrückter, als beabsichtigt.
Seine Hand wandert aufwärts und schiebt sich unter meinen T-Shirt-Ärmel.
"Manchmal fühle ich mich auch so."
Er zuckt mit den Schultern, versucht es abzutun, aber ich sehe, wie viel es ihm abverlangt, dass zu sagen.

Ich wimmere innerlich, er scheint es dennoch zu hören, denn ein Schatten huscht über sein Gesicht, legt sich über seine Augen.
Ihr Grün verdunkelt sich und verschluckt mich in einer aufgewühlten Tiefsee.
Verdammt.
Ich wollte seine Gedanken nicht in diese Richtung lenken.

Die Richtung, die nur er kennt, die mir völlig unerschlossen ist.
Ich folge ihm immer noch blind, ohne zu wissen, woran genau ich eigentlich bin - nicht, dass Gewissheit irgendetwas zwischen uns ändern würde. Hoffe ich.
Ich wüsste nur gerne, worauf wir zusteuern und was es für ihn bedeutet, Tage wie den heutigen mit nichts tun zu verschwenden.

Jace wendet sich von mir ab und nimmt das Fegeblech in die Hand.
Störrisch beginnt er die daneben gefallene Erde aufzukehren, ohne von seiner Arbeit aufzublicken.
Ich weiß, dass er weiß, was ich mich eben gefragt habe.
Und das hier ist eine Taktik mir mitzuteilen, dass ich es ja nicht laut aussprechen soll.
Doch heute kann ich nicht mehr, nicht anders. Ich muss es wissen. Auch wenn mich der Anblick von Jace auf seinen Knie schon ablenkt.
Ich muss -

"Soll ich uns morgen ein Stück Kuchen holen oder willst du wieder was mitbringen?"
Seine Frage hängt unbeantwortet in der Luft, ich nehme sie gar nicht richtig auf.
Für mich sind es nur Worte, die erneut den verzweifelten Versuch unternehmen, von seiner Person abzulenken.
Ich straffe die Schultern und baue mich vor ihm auf, die Hände verkrampft zu Fäusten geballt.

"Jace?", krächze ich.
Er schaut nicht auf. Als würde er seinen eigenen Namen nicht mehr kennen, ignoriert er meine Stimme und kehrt weiter auf.
Erde auf die Schaufel, Erde in den Eimer. Erde auf die Schaufel -
"Jace!"

Die Erde fällt zurück auf den Boden.
"Du weißt, was ich will. Und du weißt auch, dass die Wahrheit nicht zu viel verlangt ist. Ich werde nicht weglaufen. Versprochen."
Der junge Mann, der vor mir kniet, hebt die Augen und lässt mit diesem einen Blick mein Herz erzittern.

Dann richtet er sich auf und erhebt sich.
Sein Gesicht schiebt sich ganz langsam an mir vorbei, bis er wieder derjenige ist, der auf mich heruntersieht.
"Was willst du hören, hm?"
Sein Kehlkopf tritt hervor, als er hart schluckt.

Ich zucke nicht zurück, auch wenn er sich bedrohend über mich lehnt.
"Ich war schon sehr lange nicht mehr bei einem Arzt, weil mir der Letzte, den ich aufgesucht habe, eine verdammt beschissene Nachricht überbracht hat, Ophelia."
Er starrt auf mich herunter, sein Blick so finster wie die tiefste Schicht des Ozeans.
Er lauert über mir wie ein Jäger, der seine Beute einschüchtern will.

Ich weiß, dass er mich mit der Brutalität seines Blickes in die Knie zwingen will.
Aber das schafft er nicht, diesmal nicht. Nicht heute. Nie mehr.
Ein Knurren vibriert in seiner Brust.
"Was willst du wissen? Dass ich Metastasen habe? Dass er Krebs gestreut hat?"

"Aber ... aber ..."
Ich widerstehe dem Drang zurückzuweichen, plötzlich doch nötigen Abstand zwischen uns zu bringen.
"Du weißt schon so lange davon und scheust, eine zweite Meinung einzuholen?"

Ich begreife seinen Standpunkt einfach nicht.
Sicher, die Diagnose wird nicht falsch gewesen sein, aber vielleicht ist nicht alles ganz so hoffnungslos, wie es Jace anscheinend vermittelt wurde.
"Wenn es um Geld geht -"
"Ja, es geht auch um Geld! Aber das ist nicht mein Hauptproblem. Akzeptiere, dass du nicht immer die verdammte Gewinnerin sein kannst, auch nicht mit deinem Geld! Du kannst dir meine Gesundheit nicht erkaufen!"

Ich presse meine Zähne aufeinander und funkle Jace an.
"Wie kannst du nur so etwas sagen? Ich versuche, dir zu helfen. Ich bin nicht der verdammte Feind, Jace, akzeptiere das! Vielleicht konntest du deine Familie erfolgreich von dir stoßen, aber ich werde ganz sicher nicht so schnell aufgeben!"

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Song: Afterglow - Taylor Swift (cuz it's perfect for this!)

HI, Motivation und Power sind heute im Keller.

Wir lesen uns morgen <3

Gerade scheint die Sonne, wupp now i'm going outside <3

All my Love,
Lisa xoxo

almost Hate [ᴬ ᴸᵒᵛᵉˢᵗᵒʳʸ]✔Where stories live. Discover now