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Ich kann es immer noch nicht glauben. Auch nicht, als ich vor dem kleinen Spiegel im Schlafzimmer stehe und mein gelbes Sommerkleid zum hundertsten Mal infrage stelle.
"Du siehst gut aus. Können wir jetzt los?"
Ich bemerke meinen Autoschlüssel, der seltsam klein in seiner Hand wirkt.

"Du willst fahren?", frage ich überrascht.
"Wenn du nichts dagegen hast. Wäre doch irgendwie nostalgisch, wenn ich den Weg nach Hause selbstständig bestreiten würde."
Irgendwie ist mir bis jetzt noch nie der Gedanke gekommen, dass Jace einen Führerschein haben könnte.

"Na gut, Mr. Glückskeks. Ich vertraue dir", raune ich und streiche den Kragen von seinem Poloshirt glatt.
"Willst du die nicht ein bisschen weiter zu machen?"
Skeptisch deute ich auf die drei geöffneten Knöpfe an seiner Brust.

"Nein, O. Sie ist meine Mutter und nicht meine potenzielle neue Chefin."
Lachend werde ich an Jaces drahtigen Körper gezogen und für einen Augenblick ist alles normal.
Es gibt keinen Elefanten im Raum und in meinem Kopf ist die leise Stimme, die mich daran erinnert, jede Sekunde mit diesem Menschen zu genießen und vollkommen auszukosten, verstummt.

"Freust du dich denn auch ein bisschen? Ich will nicht, dass du dich ... ich weiß auch nicht ... unwohl fühlst, nur weil du das in gewisser Weise für mich machst. Immerhin warst du bist jetzt ziemlich drastisch, was den Kontaktabbruch zu deiner Familie angeht."
Ich lege meinen Kopf in den Nacken und mein Kinn an seine Brust. Ich spüre seinen Herzschlag.

"Was du vor ein paar Tagen zu mir gesagt hast, hat mir die Augen geöffnet. Ich habe die Menschen, die mich am meisten lieben - von dir jetzt mal ganz abgesehen - allein gelassen", er schenkt mir ein verspieltes Grinsen, was mich rot werden lässt. "Und das ohne jede Erklärung. Und sie haben es verdient, zu wissen, dass ich noch lebe."

Ich schlucke und verschränke unsere Hände miteinander.
"Und ... was wirst du ihnen erzählen?"
Ein Schatten huscht durch seine Augen, erstickt den Schimmer im Grün für einen Atemzug.
"Die Wahrheit, aber nur die, nach der sie fragen werden."

Ich nicke andächtig.
In Jaces Kopf wird das einen Sinn ergeben und seiner Logik folgen. Das ist seine Bürde, mit der er umgehen muss, der er sich entledigen muss.
Ich werde da sein und ihn dabei unterstützen, wenn er das will.
Nur, wenn er will.

"Gut. Ich hoffe, wir müssen deiner Mutter nicht erklären, warum wir in einem halb geschrotteten Auto vorfahren", versuche ich die Stimmung wieder etwas zu heben.
"Hey, ich bin ein wahnsinnig guter Autofahrer!"
Geschwungene Lippen formen ein breites Lächeln, das mich ansteckt.

"Na dann, ich folge dir."
Ich deute zur Tür, durch die wir kurz darauf treten.
Ich mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend, Jace mit schwitzigen Händen.
Unsere Schritte hallen im kleinen Treppenhaus von den Wänden. Ich werfe Jace immer wieder einen Seitenblick zu.

Mir kommt das alles vor wie ein schlechter Witz oder ein schöner Traum.
Aber er macht tatsächlich Ernst.
Er hält mir die Haustür auf, drückt auf meinen Autoschlüssel und lässt am Mini oranges Licht aufblitzen.

Ich würde gerne etwas sagen, weiß aber nicht was. Und nach einer Weile entscheide ich mich, dass es besser ist, zu schweigen. So wie früher, so wie sonst. Denn wir verstehen uns auch ohne Worte.
"Ist doch schon eine ganze Weile her", seufzt der Lockenkopf und lässt seine Finger über das Lenkrad gleiten.

Er schiebt den Fahrersitz zurück, stellt ihn tiefer.
Ich verdrehe die Augen. Warum muss jeder Mann beim Autofahren halb liegen?
Ebenso verstellt er die gesamten Spiegel.
Ich liebe es, ihn dabei zu beobachten. Die tiefe Falte auf seiner Stirn, wie er seine Unterlippe in den Mund zieht und ab und an ein bestätigendes Geräusch von sich gibt.

"Okay", sagt er nach einer Weile und legt seine Hand über meine.
Er übt kurzen Druck aus, dann zieht er sie weg, startet den Motor und hinterlässt mich mit prickelnder Haut.
"Ich könnte mich an diesen Anblick gewöhnen", säusle ich und lehne mich etwas zurück. "Du so am Steuer ... Warum hast du nicht mal eher gefragt, ob du fahren kannst?"

"Du weißt, dass ich nicht gerne nach Dingen frage", murmelt er.
"Und du weißt, dass du das bei mir immer kannst", entgegne ich und lege den Kopf schief.
Ein schneller Seitenblick. Dann herrscht Funkstille und ich erhasche mit Ehrfurcht wie Jace den Blinker setzt, eine scharfe Kurve fährt und seinen linken Arm am Fenster abstützt.

Wir lassen Fitchburg hinter uns und fahren Richtung Oregon. Es dürfte nicht länger als vierzig Minuten dauern, bis wir dort ankommen. Doch vierzig Minuten sind eine lange Zeit, in der man sich sehr viele unnötige Gedanken machen kann, auch wenn mich Jace nach ein paar Meilen mit Geschichten aus seiner Kindheit abzulenken versucht.

"Wie soll ich deine Mutter überhaupt nennen? Mrs. Brighton?", frage ich, als er die Geschichte über seine ersten Schwimmversuche im nahegelegenen See zu Ende erzählt hat - die im Übrigen mit einer halben Reanimation endeten.
"Margret, nenn sie einfach Margret", antwortet Jace mit einer Ruhe und Sanftheit in der Stimme, die mich an die Friedlichkeit auf dem Mendota Lake erinnern.
"Margret ... Das kriege ich hin."

Ich werfe ihm meinen Blick zu und hoffe, dass er ausdrückt, wie viel Liebe ich gerade in meinem Innersten empfinde. Ich lege eine Hand auf seinen Oberschenkel und wende meinen Blick wieder der Straße zu, beobachte die Bäume und Häuser dabei, wie sie an uns vorbeirauschen, während Jace uns nach Oregon fährt.
Nach Oregon zu seiner Familie.

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Song: Still -Seinabo Sey

Ich war heute Passfotos machen und sie sind richtig gut geworden! :)
Vorher war ich bei einer Fotografin, die einem das Lächeln strikt verboten hat & heute habe ich so casual nebenbei erfahren, dass man Lächeln darf! Man darf nur nicht den Mund aufmachen! MAN.

Wusstet ihr das?!??!?!!!

Auch ja, die Frage im Text war übrigens ernst gemeint... Warum müssen Männer immer halb im Liegen Autofahren? xD

All my Love,
Lisa xoxo

almost Hate [ᴬ ᴸᵒᵛᵉˢᵗᵒʳʸ]✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt