22.

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"Und wie war dein Abend gestern?", fragt Jace und beißt herzhaft in das Croissant, das ich ihm zum Frühstück mitgebracht habe.
Ich habe noch ein paar Minuten, bis mein Zug einfährt, da ich heute Morgen extra früh das Haus verlassen habe, denn dort konnte ich es keine Sekunde länger aushalten.

Ich überlege, wie ich am besten auf seine Frage antworten soll.
Wenn ich meine Worte nicht klug genug wähle, wird er durchschauen, dass ich einen schrecklichen Abend hatte.
Denn wenn ich eins in der kurzen Zeit, in der ich diesen jungen Mann kenne, gelernt habe, dann das er wirklich über eine erstaunlich gute Menschenkenntnis verfügt.

"Wie immer eigentlich."
Er schüttelt den Kopf und wischt sich über den Mund.
"Tut mir leid", sagt er, als er fertig gekaut hat, "aber du hast zu lange überlegt. Du musst mir aber nicht sagen, was los gewesen ist."

Grüne Augen schauen flüchtig in meine und er zieht aufmunternd die Augenbrauen hoch, dann wendet er sich wieder seinem Essen zu.
"Lass mich raten, du weißt sowieso schon, was gestern passiert ist, weil du meine Gedanken lesen kannst", scherze ich und lehne mich gegen den Getränkeautomaten, um mich vor dem kalten Aprilwind zu schützen.

Jace tut es mir gleich und sieht mich von der Seite an, während er nachdenklich kaut.
"Nein. Ich habe keine hellseherischen Kräfte oder sowas. Ich schaue eben genau hin und auf der Straße lernt man eine Menge Leute kennen und damit auch verstehen."
Ich weiche seinem Blick aus.

Ich werde nicht gerne daran erinnert, dass er kein Zuhause, kein sicheres Dach über dem Kopf hat.
Aber nach dem Zwischenfall mit meiner Mutter gestern Abend, bin ich mir fast nicht mehr so sicher, ob das freie Leben auf der Straße nicht auch seine guten Seiten haben kann - ganz davon abhängig, wo man herkommt.
Ich drehe meinen Ring zwischen den Fingern und beobachte die Menschen, die sich am Bahnsteig aufreihen.

Irgendwie ist mir noch nie aufgefallen, wie langweilig und brav sie alle sind.
Erst von hier hinten aus der zweiten Reihe hat man einen viel bessern Blick auf die Dinge, als wenn man mittendrin und unter ihnen stehe.
Vielleicht geht Jace in einer ähnlichen Art vor, wenn er sich eine Person genau anschaut. Vielleicht betrachtet er mich mit Abstand, anstatt wie ich es tue; mit nur wenigen Zentimetern Entfernung.

Ich beobachte ihn und sein Croissant. Innerlich mache ich mir die Notiz, ihm von jetzt an immer etwas mitzubringen.
Jace grinst mich an und mir fällt ein, dass mein Auto nicht für immer in der Werkstatt sein wird.
Aber vielleicht zieht Jessicas Argument bei meinem Vater und ich ihm sage einfach, dass ich die Umwelt schonen möchte.

"Du denkst zu viel", sagt Jace.
Ertappt schaue ich auf meine Schuhspitzen. Sie sind so viel sauberer und glänzender als die von Jace.
"Lass mich", kichere ich verlegen. "Es gibt eben viel, worüber ich nachdenken muss."
"Und was wäre das?", fragt er beiläufig.

"Was? Das kannst du nicht aus meiner Mimik ablesen?", frage ich empört.
Sein rechter Mundwinkel zuckt, aber er bleibt still.
"In meiner Familie ... gibt es viele Probleme."
Ich ziehe das letzte Wort in die Länge und beginne gedankenverloren die Enden meines Schals miteinander zu verweben.

"Meiner Mom ging es gestern Abend nicht gut und ... na ja, dass mein Auto kaputt ist, weil mein Bruder es zu Schrott gefahren hat, weißt du ja schon."
Ich presse die Lippen zusammen und zucke mit den Schultern.
"Du musst nicht darüber reden, wenn du nicht willst, Ophelia. Ich hoffe, ihr geht es bald wieder besser."

Da ist etwas in seinem Gesicht, was ich nicht verstehe.
Seine Augen haben sich verdunkelt, er wirkt ernsthaft betroffen. Aber auf eine merkwürdige Art und Weise.
Ich wünschte, ich könnte ihn so lesen, wie er mich.

"Ich rede ehrlich gesagt, wirklich nicht gerne über sie", gebe ich zu und lasse die Hände in meinem Mantel verschwinden.
Jace sieht aus, als hätte ich ihn geschlagen.
"Ist ja auch okay. Wir kennen uns schließlich nicht."

"So habe ich das nicht gemeint!"
Er winkt ab und würgt das Ende des französischen Gebäcks herunter.
"Jace ..."
Meine weiche Stimme lässt ihn innehalten und ich bemerke, wie sich seine angespannten Schultern lockern.

Wann sie sich angespannt haben, habe ich allerdings nicht mitbekommen.
"Es fällt mir einfach schwer, verstehst du das?", frage ich leise.
Er nickt. Es wundert mich, dass er meine Worte überhaupt verstanden hat, aber vielleicht hat er auch einfach meine Lippen gelesen.

In der Ferne kündigt sich mein Zug an.
Wir blicken gleichzeitig auf, in die Augen des anderen.
"Dein Zug", spricht Jace das Offensichtliche aus.
"Hey."
Ich greife nach seinem Arm.

Es ist das erste Mal, dass ich ihn richtig anfasse.
Meine Finger kribbeln, obwohl ich nur das glatte Material seiner Regenjacke ertaste.
"Zwischen uns ist alles okay, oder? Ich will nicht in diesen Zug steigen und denken, irgendetwas steht zwischen uns."

Unsicher sehe ich zu Jace auf und warte auf eine Antwort.
Quälend langsam teilen sich seine Lippen.
Ich hänge an ihnen und fürchte den Klang seiner tiefen Stimme mehr denn je.
"Alles gut. Ich hatte nur auch eine harte Nacht."

Ich lasse ihn los und schlage mir gegen die Stirn.
Meine Mütze verrutscht.
"Tut mir leid. Ich habe dich gar nicht gefragt, wie es dir ergangen ist, nachdem wir ..."
Verlegen richte ich meine Mütze und umklammere den Gurt meiner Ledertasche.

"Schon okay. Du musst gehen."
Er nickt Richtung des inzwischen zum Stehen gekommenen Zuges.
"Ja", hauche ich, schaue ihn aber noch einmal prüfend an, bevor ich mich umdrehe.
Ich bin schon fast an der offenen Zugtür angekommen, da höre ich Jace rufen: "Ich warte wieder hier! Halb drei?"

Mein Herz setzt einen Schlag aus.
"Ja!"
Euphorisch drehe ich mich um und winke ihm zu.
Dann eile ich in den warmen Zug. Nur wenige Sekunden später fährt er ab.
Ich mache mir nicht die Mühe, nach einem Platz zu suchen.
Ich bleibe bei den Türen stehen und schaue der Landschaft dabei zu, wie sie an den Fenstern vorbeirast.

Ist das jetzt unsere Routine? Unser Ding?
Wird er jetzt immer auf mich warten und werde ich ihm immer etwas zu Essen mitbringen?
Ein Grinsen schleicht sich auf meine Lippen und ich beiße fest auf meine Zunge, um es zu vertreiben, doch es hilft nichts.

Das Grinsen und die Gedanken an Jace bleiben.
Genauso wie meine kalten Zehen, die ich von den paar Minuten auf dem Bahnsteig bekommen habe.

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Song: Stay - Post Malone (I miss this dude so much! Jetzt auf ein Konzert von ihm gehen ... das wäre es!)

Heyhooo,

und wir haben 4k! D A N K E! An jeden einzelnen von euch <3 Ich freue mich immer, wenn ich sehe, dass neue Leser dazukommen, die auf der Reise von Ophelia und Jace mit dabei sein wollen :)

Ich hatte heute Vormittag mal ein bisschen Sonne, dass grenzte schon fast an ein Wunder... haha

Ich habe noch einiges zutun, deswegen - see ya tomorrow my loves <3

All my Love,
Lisa xoxo

almost Hate [ᴬ ᴸᵒᵛᵉˢᵗᵒʳʸ]✔Where stories live. Discover now