27.

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An diesem Morgen bin ich als ein nervöses Nervenbündel aufgewacht.
Es ist drei Wochen her, dass Jace mir am Bahnhof meine Tasche entrissen hat und als ich mich nach der kalten Dusche abtrockne, kann ich über nichts anderes als die Frage nachdenken, ob er heute wieder dort sein wird.

Am Bahnhof. Wo alles angefangen hat.
Der Gedanke, dass ich ihn nicht antreffen könnte, verunsichert mich.
Aber habe ich das Recht auf eine Garantie, dass er da sein wird? Nein.
Er lässt mich schon viel zu lange an seinem Leben teilhaben. Ebenso wie ich ihn schon viel zu lange an meinem teilhaben lasse.

Ich schüttle den Kopf und wische die letzten Wassertropfen fort.
Unser merkwürdiges Zusammensein, die Art wie wir kommunizierten. Das alles ergibt keinen logischen Sinn.
Dass ich ihn vermisse, ergibt keinen Sinn.

Denn die Gefühle, die ich ihm gegenüber aufbringen müsste, um diese Emotionen zu empfinden, habe ich nicht.
Ich darf sie nicht haben. Nicht für ihn.
Dafür müsste ich ihn an mich ran lassen und das kann ich nicht.

Ich halte inne, die Haarbürste in meiner Hand wiegt plötzlich mehrere Kilogramm.
Oder habe ich ihn nicht schon längst an mich herangelassen?
Befindet er sich nicht schon längst unter meiner Haut und in meinem Herzen?
Ich weiß nicht, wie es sich anfühlt, verliebt zu sein. Ich war es nie.

Deswegen kann ich es nicht beurteilen und ich mag diese Unsicherheit, diese Ungewissheit nicht.
Ich muss wissen, woran ich bin. Ich brauche nicht noch einen Bereich in meinem Leben, über den ich keinerlei Kontrolle habe.
Ich kann Ben nicht kontrollieren, nicht aufhalten.

Ich kann meine Mutter nicht kontrollieren, nicht stoppen.
Und ich kann meinen Vater nicht kontrollieren, nicht verbessern, nicht ändern.
Ich kann niemanden verändern.
Aber ich merke, wie Jace mich mehr und mehr verändert. Und das macht mir Angst.

Ich schaue in meine braunen Augen.
Wovor habe ich eigentlich Angst? Davor loszulassen und etwas Unbekanntes zu wagen?
Ich lege die Bürste beiseite und stütze mich am Waschbecken auf.
Wovor hast du Angst?, frage ich mich stumm, während ich meine warmen Augen studiere.

Nur, weil du nie in die Typen verliebt warst, mit denen du Zeit verbracht hast, die du in dein Bett gelassen hast? Was ist es an ihm, dass dir so eine Angst macht? Sind es seine Augen? Oder seine Hände und wie sie sich auf deiner Haut anfühlen? Anfühlen könnten?
Ich presse meine Lippen zusammen und unterbreche den Blickkontakt mit meinem Spiegelbild.
Das ist doch lächerlich.

Ich packe mir mein Frühstück ein.
Für Mirella muss es so aussehen, als ob ich einen riesen Hunger verspüre, dabei denke ich einfach nur an ein extra Brötchen für meinen bekannten, unbekannten Freund.
Ich plane mit ihm zusammen zu essen und ihm nicht wie bei den letzten Malen einfach nur dabei zuzusehen.

Doch als ich am Bahnhof ankomme, werde ich enttäuscht.
Er ist nicht da.
Sollte er sich jetzt endgültig dazu entschieden habe, weiterzuziehen? Weg von hier, weg von mir?
Egal wie oft ich mich um die eigene Achse drehe, ich erkenne ihn nicht zwischen all den Leuten.

Seine schwarze Jacke ist nicht unter den schwarzen Jacken der Fremden und niemand hier trägt ein Paar schwarzer Lederschuhe, dessen Linker einen Riss hat.
Jace ist nicht hier.
Die Nervosität verpufft, verwandelt sich in Enttäuschung und Trauer und ich lehne mich gegen den Getränkeautomaten, packe mein Frühstück aus und esse allein.

Mittlerweile benötige ich keine Mütze mehr, die mich vor dem schneidenden Wind schützt, denn dieser hat sich in einen erträglicheren Luftzug verwandelt.
Die Aprilsonne ist dabei in die Maisonne überzugehen.
Ich blinzle, als ich in den fast blauen Himmel blicke.

Dann krame ich mein Handy aus meiner Jackentasche und fotografiere demonstrativ mein Brötchen.
Zufrieden betrachte ich mein Werk, auf dem in der linken Ecke mein blau lackierter Fingernagel zu erkennen ist, und ein Schulkind, dass aus dem Hintergrund dumm in die Kamera stiert.

Nachdem ich die Lichteinstellungen nachgebessert und die schwarzen Schatten der Bahnhofssäulen mehr in den Vordergrund gerückt habe, poste ich das Bild.
Nach wenigen Sekunden vibriert mein Handy.
Sicher, dass ich dich nicht einfach mit zur Schule nehmen soll? Im Auto?!

AJs Nachricht entlockt mir ein Lächeln an diesem enttäuschenden Morgen.
Vielleicht, schreibe ich zurück, mal schaun.
Wenn Jace nicht mehr hier ist, dann spricht nichts dagegen, dieses Angebot endlich anzunehmen.

Und weil Jace eben nicht da gewesen ist, um mich aufzuheitern und mir somit die bevorstehende Fahrt mit seiner erfrischenden Art nicht versüßen konnte, stehe ich ganze zwanzig Minuten eingequetscht zwischen ungut riechenden Menschen und wünsche mich auf AJs Beifahrersitz.
Es ist nicht fair, dass meine Laune am Morgen von einem Obdachlosen abhängig ist.

Doch dann denke ich auf dem letzten, kurzen Fußmarsch zur Uni über den Regen nach, der gestern Abend aus dicken, grauen Wolken gefallen ist.
Was, wenn er jetzt irgendwo krank unter eine Brücke sitzt und einfach nicht zum Bahnhof kommen konnte?

Was, wenn er wieder eine 'Auseinandersetzung' hatte und dieses Mal mehr als ein blaues Auge davon trägt?
"Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen, Träumerin."
Abwesend blicke ich zu dem Jungen mit den zerzausten Haaren auf.

"Lass mich in Ruhe und ich mache mich im Gegenzug nicht über dein T-Shirt lustig", entgegne ich spitz.
"Was stimmt nicht mit meinem T-Shirt?", fragt AJ und blickt an sich herunter.
Unter seine Lederjacke schielt ein unansehnlicher Mr. Bean hervor, der sich auf die Lippe beißt und dabei die Nase kraus zieht.

"Nichts", antworte ich und lächle ihn falsch an.
Jess stößt zu uns und reicht mir einen Kaffee mit den Worten: "Passend zum Bahnhofsbrötchen."
Dankend nehme ich den heißen Pappbecher entgegen und spare es mir, ihr zu erklären, dass ich mein Frühstück absichtlich mit an den Bahnhof genommen habe.

Die beiden werden sowieso mit jeden Tag misstrauischer und hinterfragen mein Verhalten.
Erst vor ein paar Tagen hat Jessica versucht, die Textnachrichten zwischen mir und einer Kommilitonen mitzulesen, in der Hoffnung auf einen Hinweis für mein melancholisches Verhalten.
Ich kann darüber nur immer wieder die Augen verdrehen.

"Nimmst du sein Angebot an?"
Jess nickt zu AJ hoch, der immer noch sein T-Shirt von oben herab inspiziert.
Ich zucke mit den Schultern.
"Mal sehen."

Ich kann noch nicht zusagen.
Vielleicht ist Jace heute Nachmittag wieder da. Er wäre schließlich nicht das erste Mal, dass er morgens nicht an seinem Stammplatz auf mich warte.
Seine grünen Augen nehmen plötzlich jeden Millimeter meines Bewusstseins ein und ich verschütte beinahe meinen brühend heißen Kaffee über AJ, der einen schnellen Schritt vor macht und sich vor Jessica stellt.

"Stimmt irgendetwas mit meinem Shirt nicht?", fragt er beinahe verzweifelt.
Meine Freundin lässt ihren Blick über seinen Körper huschen, dann zeigt sie ihm die kalte Schulter und sagt: "Die Frage ist eher: Was stimmt mit dir nicht?"
Wir brechen in Gelächter aus und dieses Mal berührt die heiße Flüssigkeit tatsächlich meine Finger.

Doch ich bemerke es fast nicht, weil ich mich mit aller Macht an diesen kleinen Moment der Normalität klammere.
So ist mein Leben gewesen, bevor Jace, der Taschendieb, sich an diesem verdammten Montagmorgen vor drei Wochen dazu entschlossen hat, von mir zu stehlen.

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Song: Stars - The XX

Hi loves <3

Long story short: Meine Mum hatte heute den ganzen Tag schlechte Laune wegen der Arbeit. Und jetzt habe ich schlechte Laune. xD

All my Love,
Lisa xoxo

P.S. Der T-Shirt-Aufdruck ist frei erfunden. Es wäre aber sau witzig, wenn es wirklich so ein ähnliches T-Shirt geben würde xD

almost Hate [ᴬ ᴸᵒᵛᵉˢᵗᵒʳʸ]✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt