100.

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"Verdammt Jace jetzt mach auf!", rufe ich gegen die Wohnungstür und schlage mit der flachen Hand gegen das Holz.
Die Nachbarn im Haus sind mir gerade völlig egal. Meine Woche war alles andere als gut und musste Jace zweimal vertrösten, weil mein Dad plötzlich jeden meiner Schritte zu überwachen scheint.

"Jace?"
Ich balanciere meine Tasche und die Chipstüte auf meinem Arm, während ich über meine Schulter blickt. Vielleicht ist er auch weggegangen. Einkaufen vielleicht.
Und ausgerechnet heute habe ich meinen Schlüssel auf meinem Schreibtisch liegen lassen.

Ich will gerade meine Sachen auf dem Boden absetzen, da höre ich Jace auf der anderen Seite der Tür.
Augenblicklich breitet sich eine kribbelnde Vorfreude in mir aus. Wir haben uns in den letzten Tagen viel zu selten gesehen und ich kann es gar nicht erwarten, ihn seine Arme zu fallen.
Endlich öffnet er mir die Tür und blickt mich aus kleinen Augen an.

"Geht es dir nicht gut?", ist das Erste, was über meine Lippen kommt.
Ich schiebe mich an ihm vorbei in den kleinen Flur. Vergessen sind die Chips und der Film, den ich eigentlich mit ihm gucken wollte.
Der Park ist in der letzten Zeit keine Option mehr gewesen, weil ihn Schmerzen in den Lenden und im Rücken geplagt haben. Langes Sitzen unter den Eichen oder ein Spaziergang sind zurzeit nicht möglich.

"Hey."
Ich strecke meine Hand nach ihm aus und streiche über seinen Oberarm.
Seine Haut fühlt sich seltsam verschwitzt an. Er zuckt unter meiner Berührung zusammen.
"Hey", antwortet er mit rauer, belegter Stimme, die in meinen Ohren kratzt.
Ich werfe einen Blick ins Wohnzimmer.

Die Rollos sind halb heruntergelassen, die Kissen der Couch liegen auf dem Boden und einer der Stühle am Esstisch fehlt. Ich kann Essensreste auf und unter dem Tisch ausmachen.
Ich drehe mich zu der stummen Gestalt an der Tür um.
"Jace? Was ist hier los?"

Meine Stimme schwangt. Erst jetzt nehme ich den säuerlichen Geruch in der Luft wahr.
"Es ist so hell draußen", murmelt er und geht an mir vorbei zum bunten Möbelstück in der Mitte des Wohnzimmers.
Er trägt eine weite Jogginghose und ein weißes T-Shirt, das bereits Flecken hat.

"Kann ich dich etwa keine halbe Woche allein hier lassen?"
Ich folge ihm und versuche in sein Gesicht zu blicken, doch Jace hat einen Arm über seine Augen gelegt.
"Jace, meine Tante verlässt sich darauf, dass wir gut mit ihrer Wohnung umgehen. Hier sieht es aus wie im Saustall!"

"Jetzt komm mal runter", murmelt der junge Mann, der eigentlich viel zu groß für diese Couch ist, jedenfalls um auf ihr zu liegen.
Seine Stimme wird durch seinen Arm gedämpft.
Ich trete ans Fenster und lasse das volle Tageslicht in den Raum dringen.

Unten in der Fußgängerzone tummeln sich die Leute. Einige von ihnen tragen Einkaufstaschen bei sich. Andere nur ein Eis auf der Hand, dass in der heißen Sonne über ihre Finger rinnt.
Wie gerne würde ich mich mit Jace jetzt zu ihnen gesellen.
Ich drehe mich zu ihm um.

Seine Waden baumeln über die Armlehne.
"Was hast du, Jace? Rede mit mir, bitte", flehe ich und nähere mich wieder.
"Zu ... hell."
"Was?", frage ich und lehne mich vor.

"Es ist zu hell!"
Er zieht seinen Arm vom Gesicht und blickt mir mit weit aufgerissenen Augen entgegen.
Ich schrecke zurück. Ich kenne diese Augen. Ich habe sie schon einmal gesehen.
An diesem verhängnisvollen Donnerstag vor der Uni.

"Verdammt, Jace", entfährt es mir. "Was hast du getan?"
Ich brauche keine Antwort. Ich weiß es bereits.
Er ist high.
Ich möchte behaupten, dass er higher ist, als vor dem Edgewood Collage.

Plötzlich nehme ich alles überdeutlich wahr.
Die feinen Schweißperlen auf Jaces Stirn. Sein schweifender Blick, der Dinge zu verfolgen scheint, die ich nicht sehen kann.
Die Unordnung.
Dieser Geruch.

Der Holzboden unter meinen nackten Füßen wärm sich dank der eindringenden Sonnenstrahlen auf.
Ich scanne den Boden ab.
Alles, was ich vor ein paar Jahren in der Selbsthilfegruppe für Angehörige von Suchtkrankten gelernt habe, schnellt durch meinen Kopf.

Betreten Sie das Zimmer nie mit nackten Füßen.
Wenn Sie aufräumen, fassen Sie nie mit der ganzen Hand in Decken oder Kleidungsstücke.
Sie wissen nie, wo sich eventuell eine benutzte Spitze befindet.
Es ist sehr wichtig, dass Sie sich einen Überblick verschaffen.

Mir läuft es kalt über den Rücken.
Dad hat diese Warnungen nie ernst genommen. Als ich ihm davon erzählt habe, hat er sie lachend abgetan.
Damals war ich auch nicht so panisch. Immerhin war ich nicht allein.

Aber jetzt bin ich alarmiert. Ich bin auf mich gestellt, bin in der Situation, in der ich mich nie in meinem Leben wiederfinden wollte.
Ich habe mich wissentlich auf einen Drogenabhängigen eingelassen.
Die Schmerzen, schießt es mir durch den Kopf.

Natürlich. Er hat alles heruntergespielt. Wahrscheinlich hat er es einfach nicht mehr ausgehalten.
Ich betrachte Jace, wie er ausgestreckt vor mir liegt.
Sein Arm ruht wieder über seinen Augen.
"Du hast sie gesehen, oder?"

Ich nehme seine Stimme erst gar nicht richtig wahr, viel zu sehr bin ich damit beschäftigt zu überlegen, was ich als Nächstes tun soll.
"Was?"
"Meine Augen ... Es tut mir leid."

Mein Herz zieht sich zusammen.
"Ich wollte das nicht, ich ... Jetzt habe ich dich enttäuscht. Ich will dich doch nicht enttäuschen, ich ..."
Ich gehe in die Knie.
"Ist okay, ich bin ja jetzt da. Weißt du noch, ob du dir mehr gespritzt hast, als sonst?", frage ich in bemüht ruhigem und freundlichem Tonfall.

Jace schüttelt den Kopf, jedenfalls interpretiere ich das stockende herumrollen seines Kopfes als ein Kopfschütteln.
"Ich habe ... eine ganze Spritze, sonst mache ich immer nur halb, so ... weißt du?"
Ich nicke, obwohl er mich nicht sehen kann.

Er ist bei Bewusstsein.
Seine Gesichtsfarbe ist nicht so erschreckend blass wie beim letzten Mal, als ich ihn am Boden gefunden habe.
"Okay. Wir schaffen das", mache ich mir selbst Mut.

Mit zitternden Händen verschwinde ich in den Flur und schlüpfe zurück in meine Sandalen.
Jace ist aufgestanden, als ich zurück ins Wohnzimmer komme.
"Mir geht's gut, wirklich. Ich habe es nicht übertrieben, es war nur unerträglich."
"Ist okay", sage ich und strecke beschwichtigend die Hände aus. "Setz dich einfach wieder."

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Song: male fantasy - Billie Eilish 

KAPITEL 100!
OMG OMG LET'S CELEBRATE THIS MILESTONE!!!

Wow, ich bin echt zu einem ungünstigen Zeitpunkt im Urlaub, was?
Ich meine, es wäre für alle leichter, auf ein Kapitel zu warten, wenn es ihm Zeitpunkt der Geschichte gerade mal etwas entspannter zu geht.

Aber wann ist das bei mir schon der Fall? hihi

Bis Samstag <3

All my Love,
Lisa xoxo

almost Hate [ᴬ ᴸᵒᵛᵉˢᵗᵒʳʸ]✔Dove le storie prendono vita. Scoprilo ora