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Wir hatten vier gute Wochen. Vier gute Wochen seitdem wir uns mit Margret und Isabell treffen und sich eine Art Rhythmus eingependelt hat - zugegeben dieser Rhythmus hat über die vier Wochen an Elan verloren, weil Jace an Energie verloren hat.

Wir hatten vier gute Wochen. Dann kam die Diagnose. Krebs im Endstadium. Keine Hoffnung.
Ich habe geweint, bin auf dem grauen Stuhl vor dem Schreibtisch des Doktors zusammengebrochen und Jace sagte, es sei okay. Er legte seine Hand auf meine Schulter und hielt mich fest.
Man hätte glauben können, es geht um mein Leben, nicht seins.

Lungenkrebs. Metastasen. Knochenbefall. Lymphknotenbefall und Fernmetastasen. All diese Begriffe prasselten auf mich ein, ohne dass ich sie verstehen konnte.
Seine Leber ist befallen, deswegen die Gewichtsabnahme.
Jace hat vor dem Mann im weißen Kittel gesessen und verständnisvoll genickt, bestätigende Laute von sich gegeben.
Mir wurde klar, dass er sich die ganze Zeit über auf genau das vorbereitet hat. Die endgültige Gewissheit, vor der er versucht hat davonzurennen.

Später habe ich ihn angeschrien. Im Auto, im Flur, in der Küche und während ich ihm ins Schlafzimmer folgte.
Er sagte es sei okay und setzte sich auf das Bett, um mich mitfühlend anzuschauen.
Ich schlug nach ihm, in völliger Rage und weil ich es nicht für wahrhaben wollte.
Er fing keinen meiner schwachen Angriffe ab.
Er sagte, es sei seine Schuld.

Ist es seine Schuld? Vermutlich nicht.
Er hat sich diese Krankheit nicht ausgesucht. Und es lässt sich nicht sicher sagen, dass eine frühere Behandlung Besserung gebracht hätte.
"Höchstwahrscheinlich nicht", habe die Worte des Mannes mittleren Alters gelautet. Ärzte haben keine Ahnung, was sie mit solchen Aussagen anrichten.

Jace hat diese Untersuchung nur mir zu liebe gemacht. Um Gewissheit zu haben.
Weil die Schmerzen in seinem Bein, seinen Rippen und seinem Bauch plötzlich von Tag zu Tag schlimmer geworden sind.
Und warum habe ich nicht locker gelassen und ihn gezwungen zum Arzt zu gehen?

Wahrscheinlich weil ich wissen wollte, wie viel Zeit uns das Geschwür des Todes noch lassen würde.
Ich bin nicht blind. Ich werde jeden Tag Zeuge von dem Zerfall eines Menschen.
Jace braucht doppelt so lange wie zu Beginn meines Einzugs, um morgens aus dem Bett zu kommen.
Er wird immer dünner, seine Haut immer durchsichtiger und grauer. 
Seine Lippen sind trocken und eingerissen und manchmal muss er sich übergeben, einfach so.

Wir haben wenig Zeit. Das ist das Ergebnis dieses einen Nachmittags im Oktober, als die Sonne durch die goldenen Blätter auf uns herunter schien und die Tränen auf seinen Wangen schimmern ließ.
Warum Jace? Niemand kann diese Frage beantworten. Weder im Krankenhaus noch im gottverdammten Internet.
Und egal, wie lange ich des Nachts wach liege und mir eben diese Frage stelle - Warum?! - ich finde keine Antwort.

"Das Leben ist willkürlich", sagte Jace, als ich ihn einmal nach Mitternacht weckte, obwohl sein Schlaf doch so wertvoll ist.
"Und deswegen mache ich das Beste daraus. Und jetzt schlaf weiter."
Die Wahrheit ist, ich habe nicht weitergeschlafen. Ich habe an die schwarze Decke über mir gestarrt und mir immer wieder diese eine Frage gestellt.

Wir hatten vier gute Wochen, bis Jace eines Morgens keine Kraft mehr hatte aufzustehen.
Er ist an diesem Tag aufgestanden, ja. Nach gutem Zureden und zwei weiteren Stunden Schlaf.
Aber seit diesem Vorfall ist er nicht mehr er selbst.
Ich wimmle Jessica mit lahmen Entschuldigungen ab, warum wir uns gerade nicht mehr zu dritt treffen können.

Aber sie merkt schnell woher der Wind weht und zieht sich zurück, fragt dennoch regelmäßig nach, wie es Jace geht.
Wir gehen nur noch selten in den Park zu unserer Eiche.
Die Besuche bei Margret werden immer kürzer und mit einem Mal finde ich mich wieder, wie ich Jace in den Ohren liege, reinen Tisch mit seiner Mutter und Schwester zu machen.

Immer, wenn ich wie heute auf dem Baumstamm sitze und die drei Brightons beobachte, Jasper schnurrend an meiner Seite, bekomme ich ein schrecklich schlechtes Gewissen.
Erst jetzt bin ich dazu in der Lage, Jaces Motive hinter seinem Verschwinden vollkommen zu verstehen.

Ich habe ihn wieder in ihr Leben gebracht, nur damit sie eine flüchtige Momentaufnahme von ihm bekommen, die ihnen schneller als uns allen lieb ist, wieder entrissen wird.
Sie werden mich hassen.
Ich nippe an meinem Orangentee und ziehe die Jeansjacke etwas enger um meine Schultern. Der Wind hat aufgefrischt und wir verlagern unsere kleine Runde ins Wohnzimmer.

"Es ist so schade, dass der Sommer nun endgültig vorbei ist", merkt Maggy traurig an und klemmt sich die Sitzauflagen unter den Arm. "Ich habe immer das Gefühl, ein Teil von mir stirbt mit ihm, wenn er endgültig verschwunden ist."
Sie blickt hoch in den verhangenen Himmel.
"Sag so etwas nicht, Mom", mahnt Jace.

Eindeutig der Ursprung von seinen Glückskekssprüchen.
"Gib dir keine Mühe. Sowas sagt sie ständig. Sie hat sich bis jetzt nur vor euch zurückgehalten", sagt Isabell tonlos und wirft ihre braunen Haare zurück.
Sie ist nicht so oft hier und wenn sie es ist, kann ich die Worte, die wir miteinander wechseln, an einer Hand abzählen.

Ich wünschte, es würde mir nicht so viel ausmachen, aber Isabell ist einer dieser Menschen, von denen man sich innigst wünscht, dass sie einen mögen.
Sie schürzt ihr schmalen Lippen und blickt einmal an mir herunter.
"Schöne Socken übrigens", sagt sie im Vorbeigehen.

Jace gibt mir einen Daumen nach oben.
Von allem an mir gibt sie mir ein Kompliment für meine Socken?
Nicht die braunen Boots. Die gelben Socken mit den Sonnenblumen darauf, die kaum über den Rand des Leders herausgucken.

Ich grinse Jace zufrieden an. Ein Anfang.
Er überrascht mich, indem er mich küsst, bevor wir ins Innere des Bungalows gehen.
Mittlerweile habe ich mich hier richtig eingelebt. Ich weiß, wo alles steht, kenne Jaces altes Kinderzimmer, in dem Maggy jetzt ihren Hobbyraum eingerichtet hat.
Isabells Werk wohl bemerkt. Sie hat die ständige Erinnerung an ihren verschollenen Bruder als äußerst ungesund eingestuft und ihre Mutter zu einem Room-Makeover überredet.

"Weißt du was?", flüstert er an mein Ohr.
"Hm?"
Ich versinke in der Tiefsee und vergesse für einen Moment, dass wir vor der Terrassentür seiner Mutter stehen.

"Ich liebe dich."
Er lehnt seine Stirn gegen meine und entlockt mir ein Kichern.
"Na also, da ist es wieder", grinst er.
Ich höre auf zu lachen und sehe ihn fragend an.
"Das Lächeln in deinen Augen", neckt er mich und betritt das Wohnzimmer.

Als wir uns um den zerschrammten Couchtisch setzen, wird die Geschichte vom Essen bei meinen Eltern zum Besten gegeben, von dem Margret und Isabell noch nichts wissen.
Es ist mir nicht mehr peinlich oder unangenehm vor ihnen zuzugeben, dass ich kein gutes Verhältnis zu meiner Familie habe.

"Können wir nicht mal ein großes Familienessen veranstalten? Deine Eltern und wir? Ich würde sie trotz allem sehr gerne kennenlernen."
Isabell und ich zucken beim Wort 'Familienessen' gleichzeitig zusammen.
Margret schiebt ihren Armreif runter zum Handgelenk und sieht mich unverwandt an.

"Immerhin gehörst du schon so gut wie zur Familie", schiebt sie mit einem herzlichen Lächeln hinterher.
"Mom", stöhnt Isabell.
"Was denn?"

Die beiden Frauen tauschen einen Blick, den Jace mit einem Lachen kommentiert.
"Bei aller Liebe, aber die Rosethorns sind doch einfach nur verblendete Snobs", spricht die jüngere von beiden schließlich aus.
"Isabell!"

"Sie hat recht", wende ich ein, "meine Eltern würde wahrscheinlich nicht mal ein Fuß in dieses Haus setzen, ohne das Gesicht zu verziehen. Sie haben keinen Geschmack und kein Gefühlsleben. Meine Beziehung zu Jace sehen sie bis zu diesem Tag als eine kleine Rebellion an. Es wäre mir einfach nur unangenehm, wenn sie deine Gastfreundschaft missachten und herabwürdigen würden."

Ich blicke in die tief grünen Augen von Jaces Mutter und hoffe, dass sie meine ehrlichen Worte nicht falsch auffassen wird.
In der Tat bekommt ihr Lächeln etwas Trauriges, doch sie nickt.
"Seine Eltern kann man sich schließlich nicht aussuchen", seufzt sie.

"Themawechsel!", fordert Jace und bringt sie damit gleich wieder zu einem lauten Lachen.
Ich fühle mich schlecht, aber manchmal, wenn ich in dieser Runde bin, vergesse ich, dass ich mich schlecht fühle.

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Song: Sweet Disposition - The Temper Trap

...
I'm just gonna leave u with this. If u wanna talk, let me know.

... Y'all know u had it commin'...

All my Love,
Lisa xoxo

almost Hate [ᴬ ᴸᵒᵛᵉˢᵗᵒʳʸ]✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt