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Unwohl rutsche ich auf meinem Sitz herum und falte meine Serviette auf.
In diesem engen Kleid werde ich nach der Vorspeise schon einen Bauch haben.
Ich blicke in meinen Schoß und dann auf zu Sam. Dieser grinst mich über den Tisch hinweg an und nimmt einen Bissen vom Baguette mit Trüffelöl.

Ich liebe Trüffelöl, aber an diesem Abend liegt selbst noch mein erstes Stück Brot kaum angerührt auf dem Teller.
"Ich finde es übrigens super, dass du einfach so angefangen hast, Business und Art History zu studieren", nickt Sam mir zu.

Seit einer gefühlten Ewigkeit hält er einen Monolog über unsere Unis und die Vorstellungen seines Vaters, der ihn gezwungen hat, auf die Business School zu gehen, damit er das Familiengeschäft würdevoll übernehmen und weiterführen kann.
Ich schnaube verächtlich auf. Wenn er wüsste, was das damals für ein Kampf war, noch immer ist. Eigentlich darf ich vor meinem Vater gar nicht erwähnen, auf welche Uni ich tatsächlich gegangen bin.

"Ganz so einfach war das aber nicht."
Ich nippe an meinem Wasser. Den Rotwein ignoriere ich gekonnt.
"Du hattest eben schon immer deinen Willen. Ich meine das ernst ..."
Er beißt ein weiteres Mal in den weißen Brotlaib.
"Das ist bewundernswert. Ich hätte nicht die Willenskraft gehabt, meine Eltern zu überzeugen."

Ich presse die Lippen aufeinander.
"Na ja, eigentlich ging es ja nur um meinen Dad", sage ich leise.
Seine Schultern werden zurückgedrückt, er atmet tief ein.
"Das war ein Fettnäpfchen. Ich bin mir sicher, wenn es deiner Mom zu diesen Zeiten besser gegangen wäre, hätte sie dich unterstützt."

Ich werfe ihm einen Blick über das Blumengesteck zwischen uns zu.
Glücklicherweise kommt in diesem Moment der Kellner und nimmt unsere Bestellung auf.
Ich nehme das Hähnchen, er nimmt die Karten entgegen und schaut dabei in meinen Ausschnitt.
Sams Wangen nehmen einen Rotton an und er schaut verlegen auf die weiße Tischdecke mit den Stickereien.

Ich unterdrücke ein Augenrollen.
Hätte Jace genauso reagiert oder hätte er etwas gesagt?
Hör auf ständig an ihn zu denken!, mahne ich mich selbst. Die gedämpften Geigenklänge, die aus dem hinteren Teil des Restaurants zu uns dringen, machen mich nervös.
Ich schiebe den kleinen Teller mit dem Baguette von mir und überkreuze die Beine. Ich fühle mich nicht wohl.

Nicht in diesem Kleid, nicht an diesem Tisch, nicht in diesem Restaurant.
Ich wünschte, ich könnte sagen, dass Sams Anwesenheit dieses Unbehagen etwas mindert. Aber dem ist nicht so.
Unsere Blicke treffen sich und ich stelle mir Jace am anderen Ende des Tisches vor und wie seine grünen Augen zwischen den frischen Blüten hervorblitzen.

Vielleicht würde er ein weites Hemd tragen, das über seine rechte Schulter rutscht, sodass ich ein Teil seiner tätowierten Klaue erhaschen kann.
Vielleicht hätte ich die Möglichkeit gehabt, meine Hand über den Tisch auszustrecken und nach seiner zu greifen. Nicht wissend, was mich erwartet; kalte oder warme Haut.

Aber da sind keine grünen Augen. Da sind blaue. Und die Lippen darunter bewegen sich.
"Entschuldige, was hast du gesagt?"
Sam seufzt.
Dann nimmt er die blanke Gabel in seine Hand und fährt mit der Fingerspitze über ihre Zinken.

"Ich sagte, dass ich wirklich versuche, dir diesen Abend so angenehm wie möglich zu gestalten, aber das ich dabei anscheinend maßlos versage."
Schmerz flackert in seinen Augen oder es ist nur das Kerzenlicht.
"Sam."

Es ist alles, was ich sagen kann.
Ich hoffe, dass er versteht, dass er mehr aus diesen drei Buchstaben herausholen kann. Aber er ist nicht Jace. Er versteht nur ganze, vollständig aneinander gereihte Worte.
Ich schließe die Augen und blende ihn und das ganze teure Ambiente um uns herum aus.

"Ich bin ... einfach müde", setze ich an, als ich wieder warme Farben und kantige Formen vor mir sehe.
"Aber rede ruhig weiter. Jetzt bin ich mal die Zuhörerin."
Ich lächle und lehne mich etwas vor, verschränke die Finger vor meinem Kinn und versuche in seinem Gesicht zu lesen, ob er Verständnis hat.

Wir schweigen eine Weile. Das Klimpern von Besteck und die leisen, gedämpften Gespräche um uns herum, sind alles, was ich neben meinem Herzschlag und dem unsichtbaren Orchester höre.
Ich beiße auf meine Unterlippe, lasse jedoch früh genug von ihr ab, bevor ich Schaden anrichten kann.
Natürlich hat er Verständnis. Sam hat immer Verständnis.

Er mustert mich besorgt aus großen Augen und wirft mir ein aufrichtiges Lächeln zu.
"Wenn du früher gehen willst, gibt mir ein Zeichen."
"Nein, nein, es geht schon."
Ich setze mich aufrechter hin und beobachte eine Bedienung dabei, wie sie mit fünf Tellern auf den Armen an uns vorbeirauscht.

"Ich muss gerade daran denken, dass unsere Eltern all das hier eingefädelt haben", kichere ich erzwungen fröhlich.
Ich erwarte eine ähnliche Reaktion von Sam, etwas, dass mich kurz aufatmen lässt, die Situation auflockert.
Nichts dergleichen erscheint auf seinem Antlitz.
Ich runzle die Stirn.

"Sie wollen eben nur das Beste für uns", schleudert Sam mir entgegen.
Seine Stimme ist leise und keineswegs verletzend, dennoch fühlt es sich an, als wäre jede Silbe ein Schlag in mein Gesicht.
Ich will Sam zurück. Einfach nur Sam, den guten Zuhörer, der mich und meine bescheuerten Probleme in dieser perfekten Scheinwelt verstehen und nachvollziehen kann.

"Unser Essen kommt", sagt er hinterher und legt dann die Gabel beiseite.
Fassungslos starre ich ihn an, meine Lippen sind gespalten, weil ich irgendetwas sagen wollte. Ich weiß nur nicht mehr, was.
Wahrscheinlich sowas wie: Hast du sie noch alle?!
Oder: Das sind nicht deine Worte, sondern die deines Vaters.

Aber ich sage gar nichts und hasse mich dafür und schaue dem anständigen jungen Mann vor mir dabei zu, wie er beginnt seine Forelle zu inspizieren.
Jede takeaway Pizza hätte jetzt ansprechender auf mich gewirkt, als dieses Hähnchen mit dem halben Pfirsich vor mir.
Nachdem fünf kleine Portionen in meinem Mund verschwunden sind, hebt Sam seinen Blick.

Ich kann förmlich spüren, wie er wartet, bis auch ich den Blick hebe.
"Schmeckt es dir?", fragt er schließlich, als ich dies tue.
"Ja", flüstere ich heiser.
Am liebsten hätte ich das Stück Fleisch wieder auf den Teller gespuckt.

Mit dieser Antwort ist mein Gegenüber zufrieden und wir essen im Stillen weiter, während ich meinen Gedanken nachhänge.
Sam glaubt, dass ich das hier genauso will wie er.
In seiner Welt verbringen wir einen schönen Abend bei Kerzenschein, wobei ich mich in meinem Kopf auf eine bunte Couch in die Arme eines anderen träume.

Es fühlt sich an, als befänden sich bereits drei Gläser Rotwein in meinem Blut. Ich kann nicht mehr klar denken, alles überschlägt sich in meinem Kopf.
Der Raum scheint sich zu bewegen und ich kann die Entfernung zwischen mir und Sam, mir und der Tür, mir und dem Nachbartisch nicht mehr einschätzen.

Sam hat mich und meine Probleme mit dem Zwang in unserer Welt verstanden, bis er sich diesem Zwang anscheinend selbst willenlos gebeugt hat.
Ein an mich gerichtetes Lächeln erinnert mich, dass ich leider nicht unsichtbar geworden bin.
Alles, was ich jetzt tun muss, ist mein Abendessen essen.
Ich senke den Kopf und versuche während des Schluckens meinen Bauch einzuziehen.

Mein Messer schabt über das Porzellan und jagt eine Gänsehaut über meine Arme.
Ich habe das Gefühl, wenn ich jetzt aufblicken würde, Jace in der Tür stehen zu sehen.
Ich müsste seinen gequälten Blick ertragen und mein Hähnchen weiterkauen.
Ich könnte nicht zu ihm laufen und ihm erklären, dass ich nicht weiter gemacht habe, sondern nur so tue. Dass ich mich immer noch neben ihm auf dieser Couch befinde.

Doch als ich die Augen zur Fensterfront hebe, ist da niemand.
Nur die dunkle Nacht und ein alter Mann, der im warmen Licht des Restaurants vorbeieilt.

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Song: Eyes Closed (stripped back) - Halsey (ich hoffe, ihr habt euch alle schon ihr neues Album "if i can't have love, i want power" angehört!!!!!!!!!!!)

Es ist Montag. Wer mag diesen Tag schon.
Aber ich habe bis jetzt schon recht viel geschafft :)

Mein Essen gestern hat mir übrigens wesentlich besser geschmeckt als unserer lieben Ophelia.

Sie hat sich ja gerade wirklich in eine beklemmende Situation verrannt. Sie will das Richtige tun, aber weil sie sich von ihrem Vater beeinflussen lassen hat, kann sie nicht sehen, was das Richtige eigentlich ist ... Ich will euch nicht vorwarnen, aber das nächste Kapi wird emotional.

All my Love,
Lisa xoxo

almost Hate [ᴬ ᴸᵒᵛᵉˢᵗᵒʳʸ]✔Место, где живут истории. Откройте их для себя