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Für eine Zeitspanne, die sich anfühlt wie eine Ewigkeit, stehe ich vor der Zimmertür und starre an die weiße Farbe, bis sich kleine Punkte vor meinen Augen bilden.
Zwei Schwestern passieren mich, bis die Courage finde, Jaces Krankenzimmer zu betreten.
In der Sekunde, in der ich über die Türschwelle trete, höre ich auf zu funktionieren und all die unterdrückten Gefühle brechen erneut über mich herein, als ich Jace erblicke.

Er sitzt aufrecht in einem Bett, die Augen erwartungsvoll auf die Tür, auf mich, gerichtet.
Ein Tropf ist mit seiner rechten Hand verbunden.
"Ich hatte das Gefühl, dass du vor der Tür stehst."
Ich schließe besagte Tür und gehe nicht auf seine Andeutung ein.

Als er bemerkt, dass ich dieses Spiel von Vermutungen und Vorhersagen nicht mehr mitmache, verblasst seine zuversichtliche Miene. Seine Lippen sinken nach unten, werden schmal. Seine Finger verschränken sich ineinander und er senkt sie Augen.
Ich stehe unvermittelt an der Tür, sage kein Wort, schaue Jace einfach nur stumm an.

Seit Benno auf der Intensivstation lag, hasse ich Krankenhäuser wie die Pest.
Ich weiß, sie sind da, um Menschen zu helfen und das Ben ohne ein Krankenhaus jetzt wahrscheinlich nicht in seinem abgedunkelten Zimmer sitzen würde, aber ...
Es macht etwas mit einem, wenn man tagelang auf einem Krankenhausflur zubringen muss, neben seiner völlig aufgelösten Mutter sitzt, die man nicht trösten kann, und ständig nur den Flur herunterschielt, in der Hoffnung seinen Vater an dessen Ende auszumachen.

Eine Gänsehaut breitet sich bei diesen Erinnerungen über meinen Armen und in meinem Nacken aus.
"Du kannst dich setzten, wenn du willst", bietet Jace an und klopft zweimal auf die steril aussehende Bettwäsche.

Ich will den Kopf schüttelt, aber ich kann nicht.
Ich kann gar nichts, außer da zustehen und ihn anzusehen.
Seine braunen Locken liegen plattgedrückt an seinem Kopf.
Seine Augen wirken müde, aber wesentlich klarer als noch vor ein paar Stunden. Dieser Tag kommt mir vor wie eine Unendlichkeit.

Eine schreckliche Unendlichkeit.
"Möchtest du -"
"Du hast gesagt, du möchtest mich sprechen", sage ich gefasst. "Jetzt ist deine Chance dies zu tun, immerhin bin ich extra dafür hierhergefahren."

Jace nickt.
"Und das weiß ich sehr zu schätzen. Es ist nicht ... selbstverständlich, dass du dir hierfür Zeit genommen hast. Denn ..."
Jace Brighton fehlen die Worte.
Wenn wir uns unter anderen Umständen unterhalten würden, würde ich diese Tatsache süß finden. Aber nicht heute.

Wahrscheinlich werde ich ihn nie wieder ansehen können und ihn mit dem Wort 'süß' betiteln.
Mein tödliches Schweigen bringt ihn aus dem Konzept. Seine Augen huschen zum kleinen Fenster von dem aus man auf den Parkplatz und die davor stehenden Bäume blicken kann.
Ihre Blätter haben fast den gleichen Grünton wie seine Augen.

"Wir haben Glück. Mein Zimmergenosse ist gerade zu einer Untersuchung."
Er deutet auf das freie Bett in der gegenüberliegenden Ecke des Raumes, das mir nicht bewusst aufgefallen ist.
Ich schweige.

"Ich bin ziemlich abgefuckt, Ophelia. Und das Letzte, was ich wollte, war, dich da mit reinzuziehen." 
"Das hast du aber getan", knurre ich und zerknülle den weißen Stoff seines T-Shrits zwischen meinen Finger.
"Ich weiß. Und dafür gibt es keine Entschuldigung - das weiß ich auch. Nur mit dir ... war plötzlich alles wieder so ... normal. Du hast mich nicht wie den letzten Dreck betrachtet und das tust du sogar jetzt nicht."

Er holt Luft, was ein tiefes Husten auslöst.
"Du bist sauer, wahnsinnig sauer auf mich. Das sehe ich. Aber in deinen Augen ist nicht der gleiche Hass, mit dem mir sonst alle anderen Menschen begegnen. Ich wünschte, ich hätte das nicht zu meinen Gunsten ausgenutzt, aber du ... Wir wissen doch beide, dass da etwas zwischen uns ist. Wenn du jetzt hierherkommen würdest, würde ich dich küssen verdammt. Du machst mich nämlich auch wahnsinnig. Aber darauf will ich nicht hinaus."

almost Hate [ᴬ ᴸᵒᵛᵉˢᵗᵒʳʸ]✔Where stories live. Discover now