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"Ich habe Angst", spreche ich die Wahrheit aus.
Die Wahrheit, die ich nicht bereit bin, zuzugeben und die Wahrheit, die Jace nicht hören will.
"Ich weiß", antwortet mir seine raue Stimme.
Ich wünschte, ich könnte jetzt einfach die Augen schließen und dankbar sein, neben ihm zu liegen.

"Hast du keine?", frage ich in die Dunkelheit.
"Nein."
Ich schlucke und halte die Tränen zurück, mein Hals wie zugeschnürt.
"Ich hatte nie wirklich Angst vor dem Ende dieser Krankheit, auch nicht, als die Diagnose mit Anfang zwanzig bekam."

"Du kannst ruhig sagen, dass du sterben wirst. Ich kann das verkraften", lüge ich und umklammere die Bettdecke.
"Gut. Ich habe keine Angst vorm Sterben."
Ein Schluchzen entkommt meiner Kehle.

"Entschuldige", schniefe ich hastig.
"Wie oft habe ich dir -"
Er unterbricht sich selbst. Seine Stimme belegt.
Die Matratze unter mir schaukelt, als er sich auf die Seite dreht.

"Nicht, du sollst doch auf dem Rücken liegen", erinnere ich ihn, kurz davor mir aufzusetzen.
"Und seit wann höre ich darauf, was mir Ärzte sagen?"
Ich kann ein Schmunzeln über seinen spielerischen Tonfall nicht unterdrücken.
Es ist der merkwürdigste Umstand mit jemandem zusammenzuleben und in willkürlichen Momenten daran erinnert zu werden, dass eine unsichtbare Uhr über dem Kopf dieser Person abläuft.

"Ich verstehe jetzt soviel besser, warum du mir nichts sagen wolltest", sage ich nach einer Weile.
"Ja ... aber das war nicht fair."
"Aber berechtigt."
Er seufzt und ich höre das vertraute Rasseln in seiner Brust.

Wenn ich könnte, würde ich mir den Oberkörper aufschneiden und ihm einen meiner Lungenflügel geben. Aber laut Dr. Martens würde das herzlich wenig bringen. Nach ein paar Monaten wäre auch dieser Lungenflügel angegriffen.
"Schon vor fünf Jahren gab es kaum eine Aussicht auf Besserung, geschweige denn Heilung", beginnt Jace.

Wir haben schon hundertmal darüber geredet, aber aus irgendeinem Grund erzählt er mir gerne von seinem ersten Termin beim Onkologen.
"Dieses teure, neuartige Medikament, was sie mir damals andrehen wollten, hätte mir zusammen mit der Chemo ein paar Monate ohne Atemnot, Husten und Schmerzen ermöglicht. Natürlich von den unzähligen Nebenwirkungen des Medikaments an sich und der Chemo abgesehen."

Ein verbittertes Lachen kitzelt mein rechtes Ohr.
"Ich finde es jedes Mal witzig, wie sehr sie diese Chemikalien anpreisen, obwohl sie eine solche Qual bedeuten."
"Du willst aber nicht sagen, dass all dieser medizinische Fortschritt wertlos ist, oder? Immerhin haben Chemos schon so vielen Menschen das Leben gerettet!"

Ich muss ihm widersprechen, kann nicht zulassen, dass er alles in den Dreck zieht, was mit der Krebs-Medikation zu tun hat, nur weil er eine Wut auf die Welt und seinen Körper verspürt.
"Nein, natürlich nicht. Aber in meinem Fall schon. Einige Menschen werden nur am Leben erhalten. Es geht mir um die Lebensqualität und wenn mir da so ein Millionär mit implantieren Zähnen gegenübersitzt und mir freundlich rät, ich solle es einmal ausprobieren, sehe ich schwarz."

Ich schweige eine Weile.
"Ich mag es, wenn du so leidenschaftlich redest", flüstere ich dann.
"Das nennst du leidenschaftlich?"
Sein leises Lachen wird von einem Husten begleitet.

Ich bejahe und drehe mich ebenfalls auf die Seite.
Ich kann seine Augen nicht sehen, wünschte sie würden jetzt auf mir liegen und mich in ihren Bann ziehen, den Wirbelsturm in meinem Kopf zum Schweigen bringen. Aber ich glaube, er hat sie geschlossen.
Eine Hand ruht unter seinem Kopf.

"Ich hatte schon damals Metastasen", raunt er, seine Worte kaum verständlich, aber ich kenne sie bereits.
Ich strecke meine Hand aus und lege sie auf seinen warmen Kopf. Das weiche Haar begrüßt meine Handfläche in alter Gewohnheit, schmiegt sich an meine Haut, wie Jasper es manchmal tut.

"Ich kannte das Ende meiner Geschichte also schon vor diesem verdammten Arztbesuch letzte Woche."
Jetzt ist eine Stimme nicht viel mehr als ein schläfriges Flüstern.
"Ich weiß", wispere ich und streiche die Locken aus seiner verschwitzen Stirn.
Ich weiß.

Wie immer, wenn wir dieses Gespräch führen, denke ich zurück an den Bahnsteig mit all den vielen Menschen, die sich an mir vorbeigedrängt haben und an diesen großen, in Schwarz gekleideten jungen Mann, der mir meine Handtasche entriss und mir kurz darauf auf den Grund meiner Seele schaute.

Ich versuche mir einzelne Dialogfetzen ins Gedächtnis zu rufen und die Botschaften zwischen den Zeilen der Vergangenheit zu entschlüsseln.
"Jace?"
Ein Grummeln erklingt neben mir.

"Du kannst stolz auf dich und deinen Dickschädel sein. Ich will jedenfalls, dass du weißt, dass ich es bin."
Eine Hand tastet nach meiner Taille und drückt leicht zu.
Sein 'Danke', das so viel mehr als nur ein 'Danke' ist.

"Gib es zu ..."
Meine wackligen Stimmbänder verwehren jeden Dienst. Erst Jaces Berührung erweckt mich aus meiner Starre über den Schock, dass ich gerade wirklich dabei bin, die folgen Worte laut auszusprechen.
"Du hast mich die ganze Zeit über darauf vorbereitet, ohne dich zu leben", flüstere ich.

Plötzlich sehe ich den jungen hochgewachsenen Mann mit den langen Beinen glasklar vor mir, wie er mir die Sicht auf die Anzeigetafel am Bahnsteig nimmt und mich mit seinen intensiven Augen beinahe aufspießt.
Ich habe ihn gehasst. Für das, was er verkörperte und für das, was er in mir erweckte.

Ich sehe seinen linken Schuh mit dem Riss, auf den ich immer gestarrt habe, wenn der Augenkontakt zu viel für mich wurde und ich mich irgendwie vor ihm verstecken wollte, weil er mich lesen konnte wie ein offenes Buch, als wären all meine Emotionen und Empfindungen auf meine Stirn geschrieben.

Ich schmunzle und streiche seine Wange in der Gegenwart.
Es stimmt nicht so ganz: Ich habe ihn fast gehasst.
Denn ob ich es damals wahrhaben wollte oder nicht, ich habe gespürt, dass da etwas zwischen uns war.

Und dieses etwas ist immer noch da. Es hat sich sogar zu einer großen, leuchtenden Natur entwickelt. Etwas, für das es keinen Begriff gibt, der passend wäre.
Und es wird immer da sein.
Ich empfinde den Schwung seiner Lippen nach, die rau über meine Fingerspitze streichen.

Sein ruhiger Atem wabert über meine Haut.
All die Dinge, die er zu mir gesagt hat, auf die er mich aufmerksam gemacht hat.
All die Weisheiten, die er mit mir geteilt hat, die ganzen Glückskekssprüche.
Er wollte etwas hinterlassen in dieser Welt. Er wollte die ganze Zeit über mein Leben besser machen, weil er dieses verlorene blonde Mädchen am Bahnhof gesehen hat, das mit toten Augen auf ihren Zug gewartet hat, ganz allein.

Er wollte das Lächeln zurück in meine Augen bringen und er wollte nicht, dass ich weiterhin allein bin.
Ich konnte ihn nie retten und werde es nie können. Aber er ... er hat mich gerettet.
Eine einsame Träne rollt über mein Gesicht und ich starre auf die schwarzen Umrisse vor mir.

Jace antwortet nicht.
Die Stille tut es für ihn.

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Song: Consequences (orchestra) - Camila Cabello

oh man. das ist echt schwer zu schreiben :(
Ich meine, ich lebe für solche Szenen & Kapitel, aber ich will ihn nicht gehen lassen, will diese Geschichte nicht beenden. (Keine Sorge, noch ist es lange nicht soweit)

but get it? "Fast gehasst" - almost Hate.......... call me genius hahhaa, aber ich habe wieder einen wunderschönen Kreis gemacht muhahaa :)

Ich knuddel euch

All my Love,
Lisa xoxo

almost Hate [ᴬ ᴸᵒᵛᵉˢᵗᵒʳʸ]✔Where stories live. Discover now