8.

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Zum letzten Mal in dieser Woche steige ich aus dem stickigen Zug.
Wochenende. Endlich.
Wie die Tage zuvor halte ich vergeblich Ausschau nach Jace.
Ich weiß nicht warum, aber nach unserem gemeinsamen "Spaziergang" am Dienstag habe ich irgendwie damit gerechnet, dass wir uns wieder über den Weg laufen.

Doch seither habe ich ihn nicht mehr gesehen.
Wahrscheinlich ist er nur auf der Durchreise gewesen. Ich habe mir schon alle möglichen Szenarien ausgemalt, nur um mich danach jedes Mal ein bisschen lächerlicher zu fühlen.
Ich lasse den Blick ein letztes Mal über den Bahnhof schweifen. Dann laufe ich mit den übrigen Studenten und Büroangestellten Richtung Ausgang.

Hoffentlich habe ich nächste Woche endlich mein Auto wieder.
Meine Hand fährt Gedanken verloren über das zerschrammte Leder meiner Tasche, als ich dieselbe Strecke zurücklegen, die ich mit Jace gegangen bin.
Heute - wie auch die letzten zwei Tage - kommt mir diese viel länger vor.

Unsere Einfahrt liegt verlassen vor mir.
Ich drehe mich zur Straße, suche nach der Stelle, von der aus Jace mich aus seinen durchbohrenden Augen beobachtet hat.
Der Bürgersteig sieht genauso einsam und verlassen aus, wie unser großes Haus.

Vor ein paar Tagen haben die Gärtner Tulpen und Narzissen in die Beete rund um das Anwesen gepflanzt.
Doch die Blumen wirken eher traurig, wenn ich aus meinem Fenster auf sie hinunterblicke.
Die Garderobe ist leer und während ich noch das Haus betrete und meinen Mantel abstreife, fällt mir auf, dass es nicht nach Pizza oder anderweitigem Mikrowellen-Essen riecht.

"Ben?", rufe ich durch die Eingangshalle.
Normalerweise isst er freitags immer irgendein widerliches Essen, das mit Käse überzogen ist.
Egal wie gut Mirella für uns kocht, Ben schwört auf sein ungesundes, geschmackloses Essen.
Ich rufe erneut nach meinem Bruder.

Keine Antwort.
Sorge überfällt mich. Mit ihr kommen unerträgliche Gedanken.
Ich stürme die Treppe zu unseren Zimmern hoch, rufe erneut seinen Namen.
Sein Zimmer ist leer.

Ich zucke zusammen, als seine Tür gegen die Wand schlägt, da ich sie mit solchem Schwung aufgestoßen habe.
Er ist weg.

Seine Rollos sind wie immer halb heruntergelassen und tauchen den Raum in das vertraute Halbdunkel.
Wenigstens sehe ich so seine Wäscheberge auf dem Boden nicht ganz so deutlich.
Sonnenlicht quält sich mühsam durch die Schlitze seiner Barrikade, im Gegenlicht kann ich den Staub tanzen sehen.

Auf Socken gehe ich zu Bens ungemachtem Bett und lasse mich langsam drauf sinken.
Mein Blick schweift über die zahlreichen Rock- und Metal-Band-Poster mit denen seine Wände zugekleistert sind.
Ich spüre, wie ihre wilden Augen auf mich gerichtet sind und mich dazu auffordern, diesen Ort sofort zu verlassen.

Vorsichtig streiche über die Saiten seiner alten Gitarre, die verlassen neben mir liegt.
Sie klingt verstimmt.
Ich ziehe die Hand zurück, suche weiter nach einem Zettel, einer Nachricht, die er vielleicht hinterlassen hat und in der er mitteilt, wo er sich gerade aufhält.

Meine zusammengekniffenen Augen finden nur ein Foto, das uns am Strand zeigt.
Es wurde in unserem letzten richtigen Familienurlaub aufgenommen.
Dem gleichen Urlaub, in dem ich auch die Steine aus meiner Manteltasche gesammelt habe.
Ich denke gerne an diese unbeschwerten Tage am Strand zurück, bevor sich alles verändert hat.

"Ach Benno", entweicht es mir.
Er hat schon immer den Typus des großen Bruders erfüllt.
Rebellisch, immer provozierend, aber bis zu einem gewissen Grad hat er immer auf mich aufgepasst.
Ich reiße meinen Blick los und versuche den Kloß in meinem Hals herunterzuschlucken.

Nach einem letzten, prüfenden Blick über die Schulter ziehe seine Zimmertür hinter mir zu.
Die drückende Stille des Hauses breitet sich wie eine Glocke um mich herum aus.
Gerade will ich hinunter in die Küche gehen, da vibriert mein Handy.

almost Hate [ᴬ ᴸᵒᵛᵉˢᵗᵒʳʸ]✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt