5.

1.6K 96 76
                                    

"Dad?"
Am anderen Ende der Leitung höre ich es knistern.
"Dein Vater ist gerade in einer Konferenz. Soll ich ihm etwas ausrichten?"
"Ich -"
Ich will ablehnen und die viel zu hohe, fröhliche Frauenstimme aus meinem Kopf verbannen.

"Ja ", seufze ich, "Sagen Sie ihm bitte, dass er die Sperrung meiner Kreditkarten aufheben kann, ich habe meine Tasche wieder."
Die Frau am Telefon gibt einen verächtlichen Laut von sich.
Ich lege auf.

"Ist der Herr schon wieder nicht zu sprechen?", witzelt Jessica und wickelt sich eine Haarsträhne um den Zeigefinger.
"Er ist wie immer viel beschäftigt. Die Hauptsache ist, dass ich meine Tasche wieder habe."
Und genau in dieser verstaue ich jetzt mein Handy und sehe meine Freundin abwartend an. An ihrem ebenmäßigen Gesicht kann man deutlich erkennen, dass sie über etwas nachgrübelt.

"Ich kann es immer noch nicht glauben, dass er dir die Tasche einfach so wiedergegeben hat. Sicher, dass du da nichts falsch verstanden hast?"
Sie lehnt sich an die Wand und kaut permanent auf ihrem Kaugummi herum.
Dieses Geräusch macht mich nervös. 

"Er ... keine Ahnung, vielleicht hatte er Schuldgefühle. Ich kann dir das auch nicht erklären."
"Ein Taschendieb und Schuldgefühle? Oh bitte, macht dir nichts vor. Nicht jeder Mensch, der dir da draußen begegnet, hat einen guten Kern."
Sie schubst mich sanft und ihre Lederjacke streift meine Haut.

Ich lenke vom Thema ab, in dem ich ihr mein geplündertes Portmonee unter die Nase halte.
"Ich würde dir das Geld für die Fahrkarte sofort zurückgeben, aber er hat sich leider bedient. Morgen bekommst du es, versprochen."
Schuldig sehe ich Jess an und presse die Lippen zusammen.
Ein schallendes Lachen verlässt ihren schmalen Hals.

"Behalte dein Geld! Die Bahn habe ich dir gerne mal spendiert, ist sowieso umweltfreundlicher, als dein Mini", wehrt sie ab.
"Du weißt, wie ungern ich -"
Sie hebt die Hand und macht ein abwertendes Geräusch.

Ich zucke mit den Schultern und versuche mir nicht anmerken zu lassen, wie unangenehm mir das Ganze ist.
"Erzählt mir lieber nochmal, was er gesagt hat!"
Das rothaarige Mädchen hängt sich an meinen Arm und schaut mich eindringlich aus ihren eisblauen Augen an.

"Er hat mich einfach so komisch angeschaut ... Ich weiß gar nicht, wie ich das beschreiben soll, ohne das Wort intensiv zu benutzen."
Jessica lacht erneut auf, zwar nicht so laut wie eben, aber dennoch schauen mehrere Studenten zu uns herüber.

Ich knuffe Jess in die Seite und ziehe sie schnellstmöglich in den nächsten Gang.
"Du spinnst total, Ophelia. Der Typ war wahrscheinlich bekifft oder so."
Bei dem Gedanken an Drogen versteife ich mich.
"Oder er ist so ein Aussätziger, der aus gutem Grund von der Gesellschaft verstoßen wurde, weil er ein Weirdo ist", überlegt sie weiter und das in viel zu lautem Ton, wie ich finde.

"Können wir bitte über etwas anderes reden?", frage ich mit Nachdruck.
"Okay."
Sie legt den Kopf zur Seite und überlegt, so wie es ein Schauspieler auf der Theaterbühne tun würde.
"Lass uns über den Fakt reden, dass du zwei Taschen mit dir durch die Gegend schleppst!"

Zum Glück kommt uns AJ entgegen und Jessica lässt von mir ab.
Mit seinen ausgeleierten Jeans und den langen Haaren sticht er deutlich aus der Menge heraus.
Er hält uns auf dem Gang mit einem verschmitzten Lächeln an und legt einen Arm erst um Jess, dann den anderen um mich.

"Na wie geht es meinen Lieblings-Ladys?", fragt er mit einem liebevollen Unterton.
"Ganz wunderbar - wie immer", antworte ich übertrieben glücklich und lehne mich in seine Umarmung.
"Ja", pflichtet Jess mir bei, "denn heute ist ein wahrer Tag der Wunder. Guck mal was Ophelia da hat."

Sie nickt auf meinen Unterarm, an dem meine zerschrammte Tasche baumelt.
AJs braune Augen werden groß.
"Nein! Ich glaube es nicht! Wie hast du die denn so schnell wieder bekommen?"
Ich wende den Kopf etwas zur Seite, um sein Aftershave nicht allzu sehr inhalieren zu müssen.

almost Hate [ᴬ ᴸᵒᵛᵉˢᵗᵒʳʸ]✔Onde histórias criam vida. Descubra agora