106.

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"Du weißt genau, was ich meine, junge Dame. Wer ist er? Wo kommt er her? Niemand von uns kennt ihn. Dieser Junge ist kein Umgang für dich!"

"Er ist kein Junge!", fauche ich.
"Er ist kein Umgang für dich!"
Dads Stimme wird lauter. Ich hasse das.
Ich löse meinen klammernden Griff um meinen Oberkörper und versuche durchzuatmen, doch es gelingt mir nicht.

Ich stehe mal wieder kurz davor zu ersticken.
Auf meiner Brust liegen die Lasten, die ich nicht tragen will. Sie zerquetschen meine Lungen, haben kein Erbarmen, sie tun mir an, was sie für ermessen halten.
Ich kann nicht mehr klar denken, alles, was ich will, ist, dass mich dieser Mensch in Frieden lässt. Und ich will ihn schockiert sehen.

Ich will seine Kinnlade herunterfallen sehen. Er soll einmal, einmal nur so nach Luft ringen, wie ich es tue.
"Ach", spucke ich aus und rutsche an die Stuhlkante, wappne mich für meinen Angriff.
Er hat ja keine Ahnung, was auf ihn zukommt. Ich werde sein Weltbild zerstören. Ich hoffe, es tut weh.

Ich kneife die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und visiere die kantige Statur vor mir an.
"Und was wäre, wenn ich dir sagen würde, dass dieser Junge obdachlos war, bevor ich mich ihm angenommen und ihm geholfen habe? Weil ich nämlich nicht so ein verblendeter, selbstverliebter Mensch sein will wie du! Ich will nicht blind sein, für das was da draußen vor unseren Mauern passiert! Denn du hattest mich bereits blind gemacht."

"Was?"
Die Stimme meines Vaters gleicht dem Donnergrollen eines Unwetters, das das gesamte Hab und Gut eines Menschen mitreißen kann.
"Ich will nicht ignorant und kaltschnäuzig durchs Leben rennen und dabei vergessen, worauf es wirklich ankommt. Sie uns doch an, Dad, wir sind ein Haufen Loser in einem schönen Haus und versuchen krampfhaft ein Bild von uns aufrechtzuerhalten, dessen Rahmen schon längst einen Sprung hat."

Ich fahre über mein Gesicht.
Dad ist plötzlich ganz ruhig geworden. Er scheint erstarrt.
Wollte ich nicht genau das? Ich wollte ihn schocken.
Aber ich hätte nachdenken sollen. Nichts von dem, was eben meine Lippen verlassen hat, kann ich zurücknehmen.

"Jetzt verstehe ich ... Deine hohen Ausgaben in letzter Zeit und der Kommentar deiner Tante ..."
Es sind als laute Überlegungen getarnte Fakten, die er sich schon längst erschlossen hat.
Ich zucke mit den Achseln, die Unterlippe fest zwischen den Zähnen eingeklemmt.
Will er mich gerade bloßstellen oder was soll dieses billige Schauspiel?

Mein Vater hebt die Hand und lässt sie mit einem dumpfen Geräusch mit seiner Stirn kollidieren. Das habe ich ihn noch nie tun sehen.
"Jetzt ergibt alles einen Sinn. Der Freund, den Jennifer beim Mittagessen erwähnt hat ... das war der Kerl, der vor ein paar Tagen hier war, oder?"

Ich will ihm vorwerfen, dass ich hier kein Privatleben habe. Will ihn fragen, ob ich in einem Gefängnis wohne, in dem es entscheidend für meine Bewährungsauflagen ist, mit wem ich meine Zeit verbringe.
Ich würde ihn am liebsten bei den Schultern packen und schütteln, sehen, ob vielleicht ein kleiner Teil meines alten Vaters herausfällt, von der Version, die morgens im Bademantel mit einer Zeitung unter dem Arm am Fuße der Treppe stand und uns zugewunken hat, während Benno und ich uns für die Schule fertig gemacht haben.

Aber ich bleibe auf meinem Platz, da wo mich mein Vater hindirigiert hat.
Ich blähe lediglich meine Nasenflügel auf und ringe um meine Fassung, schweige ihn an.
"Du hast nichts dazu zu sagen?"
"Ich glaube, du willst nicht hören, was ich dazu zu sagen habe. Also ... Nein."

Ich recke mein Kinn.
"Jetzt pass mal auf."
Er faltet wieder seine Hände auf dem Tisch.
"Von hier aus haben wir genau zwei Optionen darüber, wie wir verbleiben wollen. Option Nummer eins: Ich lasse deine Konten sperren. Das ist ein Anruf für mich. Dann ist es aus mit der finanziellen Spritze für andere."

Seine stählernen Augen gleiten zum schwarzen Telefonhörer zu seiner Linken.
Ich entscheide sofort: Keine Option, ohne mein Geld hat Jace keine Chance.
"Wir führen einen unerbittlichen Krieg gegeneinander, ziehen deine Mutter - die gerade erst zurück in unser Leben gekommen ist - und deinen Bruder mit rein."

Er lehnt sich zurück und legt die Hände auf seinen Bauch.
"Ich will ehrlich sein, das ist mir die unliebsamste Option. Aber das liegt in deiner Macht."
Macht. Ich habe keine Macht. Nicht über ihn, nicht über die Situation, nicht über mein eigenes verdammtes Leben.

"Option zwei", seufzt er theatralisch, "Du erinnerst dich, auf welcher Seite du stehst, wir vergessen diese kleine Eskapade und du verabredest dich für nächste Woche mit Samuel zum Segeln. Und ... von mir aus bezahlst du diesem Landstreicher weiterhin sein Essen."
Er reibt sich seine Nase und sieht mich danach abwartend an.
"Was sagst du dazu?"

Ich wurde soeben vor vollendete Tatsachen gestellt. Das ist mir klar.
Wie soll ich ihn davon überzeugen, dass er Jace eine Chance geben soll und nicht den fälschlichen Beschreibungen von Ben Glauben schenken darf?
Wie kann ich diesen Mann dazu kriegen, mir ein einziges Mal ernsthaft zuzuhören?

"Das ist Erpressung."
Meine Aussage wird durch ein herzliches Lachen seinerseits entkräftet.
Habe ich eine Wahl?
Wenn ich es wage, mich gegen ihn zu erheben, wird er meine Konten sperren - daran besteht kein Zweifel. Ich weiß, dass er dazu jedes Recht hat.

Wenn ich keine großen Summen mehr zur Verfügung stehen habe, ist Jace wieder auf sich allein gestellt.
Ich habe schon mein Versprechen, nur ihn zu sehen, gebrochen. Das Versprechen, für ihn da zu sein, will ich nicht auch noch zerschellen lassen.

"Ich warte nicht ewig auf deine Antwort, Ophelia", verkündet eine tiefe Stimme, die durch den Raum wabert, wie giftige Rauchschwaden.
Ich habe Jace gesagt, dass ich Zeit brauche. Vielleicht ist das genau die Zeit, um die ich gebeten habe.
Abstand. Und doch kann ich noch für ihn sorgen, für sein Essen auf dem Tisch garantieren.

Ich kann ihn nicht zurück auf die Straße verschwinden lassen. Das geht nicht.
Ein weiteres Mal wird er sich nicht helfen lassen, nicht von mir oder sonst irgendwem. Und das kann ich nicht verantworten.
Also tue ich das, was mir seit klein auf eingetrichtert wurde.

Ich setze mich aufrecht hin und nicke.
"Ja", lächle ich.
Dabei bricht etwas in mir.

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Song: Apartment 402 - Girl in Red

Hi :3

Ich möchte mich für eure Reaktionen und die lieben Kommentare zu meiner Veröffentlichung bedanken <3 Ihr seid echt die besten! :')

Ich habe noch mal beim Verlag nachgefragt:
Ihr könnt euch die Anthologie einfach runter laden (PDF-Datei ist möglich), ein e-reader ist nicht nötig :)

Bei mir ist der Himmel seit Tagen grau, grau mit ganz viel Regen und noch mehr Regen. Bin ich die einzige, oder hat für noch jemanden hier der Herbst inoffiziell angefangen?

Und dann gucke ich zum Reading Festival in England und die haben gutes Wetter und Girl in Red hat dort gespielt and I wanna be there so bad! :(

Naja... maybe next year.......... *internal scream*

GO WATCH YOUNG ROYALS BYEEEE

P.S. thx for 23,5k!!!!!!!!!!!!!!

All my Love,
Lisa xoxo

almost Hate [ᴬ ᴸᵒᵛᵉˢᵗᵒʳʸ]✔Where stories live. Discover now