92.

628 57 74
                                    

Das alles ist zu viel. James gestern war zu viel. Ben heute ist zu viel.
Ich spüre mein Herz gegen meine Brust hämmern, als würde es versuchen, sich einen Weg nach draußen in die ersehnte Freiheit zu erkämpfen. Raus aus meiner engen Brust, die keinen Platz zum Existieren lässt. Weg von mir.

Und ich kann es verstehen. Ich habe nicht gerade viel zu bieten.
Während ich ein paar Sachen in meinen Rucksack stopfe, versuche ich mich an die Ophelia von früher zu erinnern.
Ich glaube, einmal fröhlich und unbeschwert gewesen zu sein. Auch, als ich den Sandkasten schon längst gegen die Schaukel eingetauscht hatte.

Doch das Bild von mir, Ben und Eric im Sandkasten ist das Einzige, bei dem ich mich an ein unbeschwertes, echtes Lachen erinnere.
Ich empfinde meinem jüngeren Ich gegenüber dieselbe Entfremdung, die ich fühle, wenn ich James ansehe und mich frage, wo mein bester Freund geblieben ist. Oder, wenn ich versuche durch Bens Barrikaden zu dringen.

Wir haben uns verändert und irgendwo auf der Strecke haben wir Versionen von uns zurückgelassen, gegen neue Versionen eingetauscht, ohne zu wissen, dass wir besser an den alten festgehalten hätte.
Ich versenke meine Zähne in meiner Unterlippe und ziehe den Reißverschluss zu.
Ich habe nicht vor, heute Nacht in dieses Haus zurückzukehren.

Dad wird auf eine Gelegenheit lauern, mich in ein Kreuzverhör zu nehmen.
Tante Jennifer wird mich anlachen und erwarten, dass ich zurück lache. Und genau das würde ich auch tun, denn obwohl sie mich verraten hat, ist sie immer noch der Grund, warum ich Jace ein Dach über dem Kopf ermöglichen konnte.
Mom braucht eine Tochter, die gute Laune und keine Probleme hat, um nicht belastet zu werden. Und diese Tochter kann ich gerade nicht sein. Denn diese Tochter bin ich schon eine sehr lange Zeit nicht mehr.

Ich bin gerade dabei eine neue Version von mir zu finden.
Sie ist nicht hundertprozentig glücklich. Aber vielleicht kann man das ab einem bestimmten Alter auch gar nicht mehr sein, wenn man einmal realisiert hat, wie hässlich diese Welt ist.
Aber sie ist glücklicher als die alte Ophelia. Und ich kann sie nur sein, wenn ich bei Jace bin.
Bei dem jungen Mann, der mir beibringt sie zu sein.

Behutsam ziehe ich meine Zimmertür hinter mir zu und husche auf Socken die Treppe in die Eingangshalle hinunter.
Fröhliche Gesprächsfetzen dringen aus dem Esszimmer zu mir.
Es freut mich für alle, die an diesem Tisch sitzen, denn sie haben es verdient. Und ich glaube, für dieses Haus hat es auch etwas Gutes, mal wieder andere Dinge neben Geschäftsverhandlungen und Streit und Tränen zu hören.

Trotz allem liegt ein schales Lächeln auf meinen Lippen, als ich in meine Schuhe schlüpfe.
Die Sommerluft ist heiß und feucht.
Meine Haare kleben mir beinahe sofort an Nacken und Hals, als ich über die Schwelle trete.
Der weiße Mini, mein Geburtstagsgeschenk, das ich immer noch nicht wirklich angenommen habe, wartet, in der prallen Sonne geparkt, auf mich.

Das Radio springt zusammen mit dem Motor an.
Schnell drehe ich die Lautstärke herunter. Auch wenn Musik das Pflaster für meine Seele ist, in diesem Moment ist mir einfach nicht danach.
Alles ist entweder zu fröhlich oder unauthentisch traurig.

Ich lenke auf die Straße ein und drücke das Gas durch, lasse die scheinheilige, heile Familie am Esstisch zurück, die wahrscheinlich kaum die Abwesenheit der beiden einst lachenden Kinder registriert.
Sie haben auch nicht bemerkt, wie wir uns verloren haben.
Kann man ihnen die Schuld geben? Vielleicht.

Das Sonnenlicht brennt auf meiner Haut, wird durch die Autoscheiben verstärkt und lässt mich hyper bewusst über die Stellen werden, über die meine Tränen gerannt sind.
Sich aufbauschende Sommerkleider ziehen an mir vorbei. Verschwitze Menschen, die mit ihrem Hund auf die Straße müssen oder Einzelgänger, die unterwegs sind, zu einem Ziel, das ich nicht kenne.

Für sie bin ich nur ein weiteres Auto, dass sie passiert. Sie können meine Gedanken, die dieses Auto ausfüllen, den Innenraum zum Erzittern bringen, ja nicht hören.
Habe ich meinen Bruder für immer verloren?
Eine Frage, die meine Rippen zum Zusammenziehen bringt.

Habe ich meinen Bruder etwa für immer verloren und das nur wegen Drogen, nur weil er aus irgendeinem Grund verzweifelt war, weil er einmal ausgerutscht ist und sich hingab, das Loch in seiner Brust zu füllen?
Wegen Drogen von James.

Und genauso aus diesem Grund hasse ich ihn. Ich hasse James Marison und alles wofür er steht.
Verrat, Betrug, Verachtung.
Alles, was er in Ben gesehen hatte, waren ein paar weitere Hundert Dollar in seiner Tasche.
Er hat nicht den Bruder seiner besten Freundin gesehen und auch nicht, was er dieser besten Freundin damit antun würde, wenn er ihrem Bruder die erste kleine Tüte verkauft.

Noch nie hatte mich jemand so hintergangen wie James.
Ich habe in James immer meinen Prinzen auf dem weißen Pferd gesehen, meinen Beschützer, meinen Helden.
Er war für mich da, wenn es sonst keiner war. Wir teilten die Geheimnisse unserer Kindheit. Er war so etwas wie mein zweites Zuhause.

Hastig wische ich mir eine neue Träne von der Wange, die unbemerkt bei dem Gedanken an die Holztreppe der Marisons gefallen ist.
Diese Treppe sind wir immer zusammen hoch und runtergelaufen, bis wir nicht mehr konnten oder uns seine Mutter ermahnt hat.
Diese Treppe bin ich hochgerannt, als ich meinen ersten großen Liebeskummer in der Vorschule hatte, weil ein Junge namens William meine geflochtenen Haare hässlich fand und mich abwies.

Ich bin diese Treppe hinuntergeschritten, als wir zu unserem ersten Prom gefahren sind und James angefangen hat mit den ersten Schmerztabletten seiner Mutter zu dealen.
Ich bin diese Treppe hochgerannt, als er selbst angefangen hat sie zu nehmen und meine Füße trafen sicher auf jede Stufe, die ich mit geschlossenen Augen erspüren konnte, als mein bester Freund meinem Bruder die ersten Drogen verkaufte.

Weil James Marison schon immer ein Händchen dafür hatte, das schwächste Glied der Kette aufzuspüren.
Bei jedem unserer Treffen, die bei mir stattgefunden haben, hat er erkannt, dass Ben kaputt war, dass er verzweifelt an einem dünnen Fanden hing und eine Rettungsleine brauchte.
Und für 10$ pro Gramm wurde ihm plötzlich eine Rettungsleine angeboten. Doch sie war dünn, nicht haltbar.

Die selbstgedrehten Joints betäubten ihn nicht lang genug, entführten ihn nicht lang genug aus unserer Realität.
Aber James hatte noch stärkere, festere, stabilere Rettungsleinen, die hielten, was sie versprachen: Sie rissen Ben weg, weit weg von allem, von uns.
Und so wurde mein Bruder drogenabhängig.

Ich habe es erst erfahren, als Ben einen Namen nennen musste. Von wem kamen die Drogen?
Von wem kamen die Drogen, mit denen er sich auf dem Boden unseres Badezimmers fast das Leben genommen hatte?
Er hat es nur mir gesagt. Im Stillen.

"Von James."
Meinem Prinzen. Der sich ziemlich schnell vom Verbündeten zum Gegenspieler entwickelt hat.
Noch heute höre ich Bens raue, kaum hörbare Stimme über das Piepen des Vitaldatenmonitors im Krankenhaus hinweg.

Ich habe zu James auf der Party im April zwar gesagt, dass ich meinen Frieden mit der Sache geschlossen habe - das habe ich auch ... mit der Sache -, aber James kann ich nie verzeihen.
Die Tränen laufen immer schneller über meine Wangen und ich komme nicht mehr hinterher, sie mir alle vom Gesicht zu wischen, ohne dabei das Steuer zu lange loszulassen.

Was ist aus meinem Leben geworden?
Ich stehe doch permanent vor einem riesigen Scherbenhaufen!
Aber es war nicht nur James, der all das angerichtet hatte. Das weiß ich.
Das waren wir alle. Meine Familie und ich.

Und erst als ich die Treppen des kleinen Treppenhauses mit dem blauen Geländer emporsteige und mein wahres Zuhause im Türrahmen erblicke, hören die Tränen auf zu fallen.
Ich atme aus, es fühlt sich so an, als hätte ich seit heute Mittag die Luft angehalten.
"Na?", fragt mich eine warme Stimme und bringt einen weiteren Teil meiner neuen Version zum Vorschein.

Stück für Stück wird er sie freilegen, die neue Ophelia.
Er wird mich befreien.

______________________________________
Song: Iris - Chris Lanzon (Cover) (the best Cover in the world - DON'T FIGHT ME ON THAT!)

Heute (okay eigentlich gestern) habe ich richtig geballert! xD 
Cuz this chapter is einfach nur rund and i like that :)

Ich habe jetzt Ferien! WUPP aber ich muss noch Französisch machen BUHHH :(
Deswegen verschwinde ich jetzt wieder & mache mich an die Arbeit meh.

All my Love,
Lisa xoxo

almost Hate [ᴬ ᴸᵒᵛᵉˢᵗᵒʳʸ]✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt