19.

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Jace kommt wieder einen Schritt näher.
Doch anstatt meinen Kopf weiter in den Nacken zu legen, um ihm weiterhin ins Gesicht blicken zu können, senke ich ihn.
Er steht so nah, dass ich seinen herben Geruch wahrnehmen kann. Und aus irgendeinem Grund macht mich das nervös, es lenkt mich ab.

"Dann hast du noch nicht so viele Antworten bekommen, die dir nicht gefallen", sagt er nachdenklich.
Ich runzle die Stirn.
"Wie meinst du das?"
Nur für einen kurzen Moment treffen seine grünen Augen auf meine.
"Na ja ..."

Er tritt von einem Fuß auf den anderen. Einer davon hat einen Riss.
"Wenn du viele Fragen stellst, dann hast du das Fragen noch nicht aufgegeben. Das ist schön, heißt aber auch, dass du noch nicht sonderlich viele Antworten bekommen hast, die dir nicht gefallen haben."

Der junge Mann vor mir zieht die Schultern hoch.
Ich suche nach Worten, meine Zunge ist seltsam trocken. Ich bin beinahe geschockt, über seine Behauptungen.
"Stellst du immer solche Vermutungen über Fremde an?"

Herausfordernd blicke ich zu ihm auf, beobachte seine Wimpern, durch die das Gegenlicht dringt und sich glitzernd in den kleinen Härchen fängt.
"Gute Menschenkenntnis", sagt er beiläufig.
Eine Frau mit Aktentasche rennt an uns vorbei. Ihre hohen Schuhe schaben über den Stein.
Jace schaut ihr mit einem verächtlichen Grinsen nach.

"Ich denke nicht", setze ich wieder an, als er sich zu mir zurückdreht, "dass es eine Antwort gibt, die mich das Fragen aufgeben lassen würde. Was wäre ich denn dann für ein Mensch?"
Ich gestikuliere herum und streiche mir eine Strähne aus den Augen.

"Oh, glaub mir, es gibt Fragen, auf die du keine Antworten bekommen willst."
Jaces Stimme ist leise, beinahe trägt der Wind sie davon, doch ich lehne mich vor und lausche seinen rauen Worten.
"Und welche Fragen wären das?"

Er schweigt. Lange.
Hinter mir fährt ein Zug mit quietschenden Bremsen ein und ich presse meine Hände an meinen Mantel, damit der eisige Einfahrtwind nicht darunter fahren kann.
Jace betrachtet meine Hände, dann seufzt er.

"Siehst du, ich habe das Fragen und das Antworten aufgegeben."
Ungläubig sehe ich ihn an.
"Das glaube ich nicht."
Provokant blickt er auf mich herunter, sein Mundwinkel zuckt.

Jedoch breitet sich kein breites Lächeln auf seinem Gesicht aus, so wie ich es mir erhofft habe.
Er schaut mich einfach aus durchdringenden Augen an, den Kopf geneigt, die Lippen geschlossen.
Mein Blick wandert zu seinem dunkeln Auge.

Beinahe löse ich meine Finger vom weichen Stoff meines Mantels, um nach seiner blessierten Haut zu tasten.
Doch ich reiße mich zusammen, wende den Blick ab.
Ich kann das nicht machen. Ich kenne diese Person nicht. Ich wurde besser erzogen, zu mehr Vorsicht.

Ich löse meine Finger von meinem Mantel. Aber nur um sie ineinander zu verschränkten und den Ring an meinem Mittelfinger zu betrachten.
Die graue Decke fällt mir wieder auf.
Sie beantwortet mir die eine Frage, die ich Jace nicht stellen will.

Sie spricht lauter, alles andere.
Sie und der kleine, weiße Becher mit Kleingeld.
Jace ist obdachlos.
Er ist ein obdachloser Taschendieb auf den ich gerade mit Schmetterlingen im Bauch einfach so zu gelaufen bin.

"Doch."
Jaces Stimme lässt mich den Kopf heben, doch ich schenke der Intensität seiner Augen keine Beachtung.
"Und ich möchte dir diese Antworten ersparen. Ich sehe dir an, dass du mich gleich weiter löchern willst", sagt er mit gesenktem Kopf.

Ich überlege. Etwas zu lange, verfolge dabei mit schweren Augen eine hinkende Taube im Gleisbett.
Er bringt mich aus dem Konzept.
So wie er das eben gesagt hat, seine Wortwahl, sein Ton ... es klang beinahe liebevoll.
Wir kennen uns nicht!

Und doch bist du freudig auf ihn zu gelaufen, wie ein streunender Hund, der ein Zuhause sucht, wispert mein Gewissen.
Ich betrachte Jace. Sein blaues Auge, seine gekräuselten Haare, die sich unter der Mütze hervorschieben.

Ich inspiziere seine trockenen, spröden Lippen, die dennoch so weich und einladend aussehen.
Ich werde nicht schlau aus diesem Typen.
"Was denkst du?", sagt er.
"Das ich dich überhaupt nicht kenne ..."
"... und trotzdem hier vor mir stehst?", beendet er meinen Satz.

Mit großen Augen sehe ich ihn an.
Er grinst. Dann dreht er sich um und bückt sich nach seinem Plastikbecher.
Ich beobachte seinen wendigen, großen Körper, wie seine langen Finger sich um das dünne Plastik schließen und er das Kleingeld in seine Hand kippt.

"Das können wir ändern", sagt er dann, unsere Augen begegnen sich.
"Falls es dir nicht entgangen ist, bin ich öfter hier."
Er lässt das Geld in seiner Hosentasche verschwinden und hustet.
Es ist ein ekliger Husten, der tief aus den Lungen kommt. Beinahe verziehe ich das Gesicht.

Aber es wundert mich nicht.
Bei einem Leben auf der Straße bleibt so ein Husten im Winter wahrscheinlich nicht aus.
Ich inspiziere Jaces Sachen.
Er scheint wirklich nur diesen Reiserucksack und die Decke zu haben.

Ich sehe nicht viel, was ihn warmhalten könnte, außer seiner Regenjacke.
"Mit welchem Zug kommst du wieder? Wenn du magst, kann ich auf dich warten, dann können wir uns kennenlernen."
Mir bleibt die Luft weg und Jace unterbricht unseren Blickkontakt.

Er weicht zurück, beinahe um den Schritt, den er eben verbal zu weit gegangen ist, zurückzunehmen.
Das hier könnte eine ganz gemeine Falle sein.
Er macht mir schöne Augen, nur um mich dann auszurauben oder sonst was mit mir anzustellen.
Doch da ist etwas in seinen Augen, dass mir sagt, dies sind nicht seine Absichten.

Er wirkt plötzlich so verletzlich.
Eine leichte Röte hat sich auf seinen Wangen ausgebreitet.
Aber wahrscheinlich verursacht nur der schneidende Wind, der um die Ecke des Automaten zieht, seine geröteten Wangen.
"Halb drei", kommt es über meine Lippen, ohne das ich die Worte aufhalten kann.

Überrascht schaut Jace mich an.
Ich versuche ein Lächeln, bis er es erwidert.
"Okay. Halb drei", wiederholt er.
Ich nicke.

Ich möchte ihn fragen, wie seine Nacht war, wo er geschlafen hat, wie viel Geld er jetzt in seiner Tasche hat. Ich will so viel wissen.
Doch ich traue mich nicht und außerdem fährt mein Zug in diesem Moment ein.
"Ich muss."
Ich deute auf das abbremsende Gefährt.

"Wir sehen uns Ophelia."
"Nicht zu vielen Mädchen auflauern, Jace."
Er lacht auf und ich wende mich ab, laufe zum Zug und unterdrücke meine Muskeln, die alles daran setzen, sich noch einmal zu ihm umzudrehen.

Vom Zugfenster aus kann ich ihn nicht mehr sehen.
Der Getränkeautomat wird von Fahrgästen und einer Säule versperrt.
Ich lasse meine Stirn gegen das kühle Glas sinken und schaue dem Kondenswasser dabei zu, wie es sich sammelt und in kleinen Tropfen an der Scheibe herunterrinnt.

Ich habe einem Obdachlosen gerade mitgeteilt, wann ich aus der Uni zurückkommen würde.
Wobei ich die Uni nicht erwähnt habe, aber nachdem Jace meine Handtasche durchsucht hat, wird er wissen, dass ich studiere und auf welche Uni ich gehe.
Ich reiße meinen Blick von den Wassertropfen los und setze mich richtig hin.

Ich kann immer noch einen Zug später zurückfahren oder mich von AJ kutschieren lassen.
Ich muss ihn nicht wieder treffen.
Aber ich will.

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Song: Only - RY X (einer der besten Songs ever! Ich denke, den werdet ihr in dieser Geschichte vielleicht noch öfter hören)

Hi Loves :)
hope u had a great day!

Ich habe heute richtig schnell in Englisch gearbeitet (12 Seiten geschafft) und deswegen dacht ich, ich könnte etwas früher updaten und danach BBC 1 hören und dabei mein Fototagebuch weiter "designen" - Pustekuchen. Solange ich nicht alleine auf dem Mond wohne, werde ich wohl immer wieder in meinen Tätigkeiten unterbrochen, seufz. :(

Ich hoffe, ihr habt heute etwas Kreatives, fulfilling machen können - oder macht dies jetzt noch.

Na ja & heute Abend/Nacht wird wieder geschriiieebbbeenn hrhr

In dieses Kapitel habe ich übrigens ganz viel Liebe ins Detail gesteckt, ich hoffe, dass hat man gemerkt.
Es soll die Intensität zwischen Ophelia und Jace unterstreichen.

Genug gelabert, bis Morgen <3

All my Love,
Lisa xoxo

almost Hate [ᴬ ᴸᵒᵛᵉˢᵗᵒʳʸ]✔Where stories live. Discover now