26.

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Nach dem gestrigen Tag habe ich eigentlich nicht geplant, mein Bett zu verlassen, geschweige denn, die Kopfhörer aus meinen Ohren zu nehmen.
Doch wie immer hat das Leben andere Pläne für mich.
Unsere Klingel schrillt durchs Haus.

Solange, bis ich mich stöhnend aufsetze und die Musik aus meinem Kopf reiße.
Ich presse meine kalten Hände an meine geröteten Wangen.
Bevor ich zur Tür eile, blicke ich in den Spiegel. Ich trage schon wieder kein Make-up.
Aber anders als gestern wäre es heute von Vorteil, meine Augenringe und die Spuren meiner Tränen zu verbergen.

Tja, leider bleibt mir keine Zeit.
Ich gehe mit schnellen Schritten den Flur entlang. Dad muss Zuhause sein, seine Bürotür ist geschlossen. Ich höre ihn zwar nicht reden, aber ich weiß, dass er da ist.
Warum geht er nicht an die Tür?

Als ich Bens Zimmer passiere, schaue ich absichtlich auf den Boden.
Ich kann nichts anschauen, das irgendwie zu ihm gehört. Ich bin zu enttäuscht, zu verzweifelt. Weil ich Angst habe.
Ich renne die Treppe hinunter, ein erneutes Klingeln ertönt.

"Komme!", rufe ich dem ungeduldigen Besucher entgegen.
Doch dann schleicht sich ein kleines Lächeln auf meine trockenen Lippen.
Sam steht vor der Tür. Die Arme lässig verschränkt, als er mich durch die Scheibe sieht, breitet er sie aus.

"Na endlich! Ich dachte schon, ihr wollt mich nicht reinlassen", lacht er.
Ohne ein Wort zu sagen, lasse ich mich in seine Umarmung fallen. Es tut gut, seine vertrauten Arme um mich zu spüren und Trost in dieser simplen Berührung zu suchen.
Meine letzte richtige Umarmung ist schon viel zu lange her.

Ich dränge die brennenden Tränen zurück.
"Schön dich zu sehen, Sam", flüstere ich und löse mich von ihm.
Seine blauen Augen leuchten in der Frühlingssonne. Ich habe in meinem Zimmer gar nicht bemerkt, dass sie hinter den Wolken hervorgekommen ist.

Sam legt den Kopf ganz leicht zur Seite und mustert mich.
Seine Augen huschen über mein nacktes Gesicht und ich weiß, dass er sich über meinen Aufzug wundert. Aber dank seiner guten Erziehung, kommt kein Wort diesbezüglich über seine Lippen.
Ich beiße auf meine Zunge, winde mich unangenehm unter seinen blauen Augen und nicke ins Haus.

Sam kommt meiner Einladung nach und wir gehen ins Wohnzimmer, welches zum Glück leer ist.
"Willst du was trinken?", frage ich und streiche mein übergroßes Sweatshirt glatt.
Es ist schwarz und irgendwie wünsche ich mir, dass es Jaces gehören und nach ihm riechen würde.
Doch am Stoff ist kein erdiger Moschusgeruch. Da ist nur der Duft von Veilchen.

"Nein, danke", reißt Sam mich aus meinen Tagträumen. "Ich bin eigentlich nur kurz vorbeigekommen, um meine Jacke abzuholen, die ich nach der Gala hier vergessen habe."
"Ach, das ist deine."
Ich erinnere mich an die herrenlose Jacke, die meine Mutter bei der Bar gefunden hat.
"Sie hängt im Arbeitszimmer, ich kann sie dir gleich holen, wenn du schnell weiter musst."

Mit hochgezogenen Augenbrauen sehe ich ihn fragend an.
Sam winkt ab.
"Wenn du Zeit hast, würde ich einen Moment bleiben. Ich wollte die Jacke eigentlich früher abholen, aber ..."
Ich nicke, ich verstehe.

Es ist Sonntag - der einzige Tag der Woche, den Samuel Kites nach seinen Vorstellungen gestalten kann.
Seine Eltern sind sehr darauf bedacht, dass ihr einziges Kind alles dafür tut, um ihre erfolgreiche Firma eines Tages genauso erfolgreich weiterzuleiten.

Ich will Sam ablenken, deswegen spreche ich die feinen Designermöbel gar nicht erst an.
"Ich freue mich einfach, dich mal wiederzusehen - ohne meine Eltern im Hintergrund und nicht auf einer erzwungenen Veranstaltung."
Wir lassen uns auf die Couch fallen und Sam schüttelt sein blondes Haar.

"Sag das lieber nicht so laut, wer weiß, wer uns hören könnte", raunt er dann und legt verschwörerisch einen Finger an die Lippen.
Ich kichere.
Mit einer beiläufigen Bewegung legt er die Arme über die Sofalehne.
Sam versteht mich einfach. Wir konnten uns leider beide unsere Familien nicht aussuchen.

almost Hate [ᴬ ᴸᵒᵛᵉˢᵗᵒʳʸ]✔Where stories live. Discover now