77.

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Jess ist sauer. Richtig sauer.
Ich kann sie verstehen.
Sie tigert vor mir auf und ab, den Blick auf ihre nackten Füße gerichtet.
"Ich fasse es nicht", murmelt sie dabei immer wieder.

Ich bin gleich nach unserer Kleider-Ekstase mit zu ihr gefahren und habe in in ihrem Zimmer mein Geständnis ausgepackt. Ich habe ihr alles erzählt.
Na ja fast alles. Das Jace krank ist, weiß Jessica nicht.
Aber, dass er derjenige war, der mir meine Handtasche geklaut und damit diese ganze wunderschöne Misere in Gang getreten hat.
Ihr ist ebenfalls aufgegangen, dass Jace der mysteriöse Typ war, der vor der Uni gestanden und uns angestarrt hat. Danach wäre sie mir fast an die Gurgel gegangen.

Und jetzt durchquert Jess vor mir ihr Zimmer, fassungslos und sauer.
Immerhin habe ich sie angelogen. Ein Fakt, den sie mir in den letzten fünf Minuten mindestens viermal vorgeworfen hat.
Plötzlich hält mir jemand einen Spiegel vor und demonstriert mir, wie ich mich als Freundin verhalten habe.
Ich kauere mich auf der kleinen Bank vor ihrem Bett zusammen.

"Und niemand weiß davon?"
Eine feuerrote Strähne löst sich aus ihrem unordentlichen Dutt, der immer weiter nach links abrutscht.
Ich beiße auf meine Unterlippe und schüttele den Kopf, nur um ihn kurz darauf zwischen die Schultern zu ziehen, als Jess mir entgegenpfeffert: "Bilde dir ja nicht ein, dass ich mich jetzt geschmeichelt fühle!"

Sie beginnt an ihrem Gel-Nagel herumzukauen.
Ihr Kaugummi hat sie schon im Auto ausgespuckt und ihre Zähne scheinen nach Beschäftigung zu lechzen.
Während ich ihre gekrümmte Statur in mich aufnehme, fällt mir der besorgte und angewiderte Blick ein, den ihr Gesicht trug, als ich von dem Taschendieb berichte habe.

Sicher, sie war als meine Freundin einfach besorgt, aber da war auch ihr Lachen, über AJs abwertende Witze über Penner, die Ungeziefer haben und traurige Gestalt, die ihre Chance im Leben vertan haben.
Und plötzlich bin ich in der Lage mich aufrechter hinzusetzen.
Ich habe meine Gründe gehabt, Jess nichts von Jace zu erzählen, als sich unsere Beziehung - diese Dynamik zwischen uns - noch entwickelt hat.

Sie hätte es nicht verstanden.
Und so wie sie jetzt aussieht, mit schmalen Augen und sich schnell hebender Brust, glaube ich, dass sie immer noch nicht versteht.
Egal, wie verzweifelt ich versucht habe, ihr zu erklären, dass das mit Jace - das Jace - etwas Besonderes ist.
Wie kann es sein, dass meine Tante dies aus meilenweiter Entfernung verstehen konnte, aber nicht meine beste Freundin, die direkt vor mir steht und mir in die Augen sehen kann?

Jessicas Stimme ist in den Hintergrund gerückt, erst als ich ihre wild umher fliegenden Hände bemerkte, rückt sie wieder in den Vordergrund.
"Ich freue mich ja für dich, irgendwie ... Aber ... Das ist ein Taschendieb, ein verdammter Obdachloser, den du in die Wohnung deiner Tante hast ziehen lassen - weiß sie überhaupt davon?!"
"Natürlich!"
Entgeistert sehe ich sie an.

"Ah ha. Dann ich bin also doch nicht die Einzige und schon gar nicht die Erste, die von deinem Freund erfährt."
Ich sinke in mich zusammen. Wir haben uns noch nie definiert.
"Er ist nicht mein Freund", murmle ich.

Sie gibt ein abwertendes Geräusch von sich.
Dann seufzt sie tief und lässt sich neben mir auf der gepolsterten Bank nieder.
"Süße?"
Ich blicke auf. Ihre Stimme hat einen weicheren Ton angenommen, an den ich mich hoffnungsvoll klammere.

"Ich meine das nicht so böse, wie ich es vielleicht gerade rüberbringe. Auch wenn ich verdammt sauber bin, dass du mir nicht von ihm erzählt hast! Ich ... mache mir einfach Sorgen um dich."
Sie legt den Kopf schief und wartet bis ich nicke.
"Verstehst du? Ich sehe das nämlich so: Du hast eine Menge Kohle. Wahrscheinlich wird dich dieser Jace gegoogelt haben, nachdem er deinen Ausweis gefunden hat."

"Zu dem Zeitpunkt hatte er noch gar kein Handy", gebe ich kleinlaut bekannt.
"Und woher willst du das wissen?"
Sie hebt ihre Augenbrauen und sieht mich abwartend an.
"Dachte ich mir", sagt sie dann triumphierend, als von mir keine Antwort kommt.

Sie rutscht ein Stückchen näher und legt mir einen Arm um die Schulter.
"Ich mache mir einfach nur Sorgen, dass er ein Arschloch ist und dich ausnutzt. Denn mal ehrlich, kann er dir irgendetwas bieten? Von seinem Genital mal ganz abzusehen."
Röte schießt in meine Wangen und ich werfe Jessica einen bösen Blick zu.

Sie hat weder ein Recht, so über ihn zu reden, noch mich so verlegen zu machen.
"Wenn du ihn kennen würdest, dann würdest du nicht so über ihn reden."
Ich bohre meine Augen in ihre und gebe nicht nach ihr Stand zu halten, auch nicht als sie provozierend den Kopf vorstreckt und die Arme verschränkt.

"Dann sollte ich ihn kennenlernen."
Ihre Worte treffen mich wie ein Schlag in den Magen.
An diesen Schritt, an diese Konsequenz der Wahrheit habe ich nicht gedacht.
Ein überfordertes Stammeln ist alles, was ich herausbringe.
Eine schmale Hand legt sich auf meine Schulter.
"Keine Sorge, ich werde einige Gänge zurückschalten", lacht sie auf.

Gänge?
Bei ihrem Temperament sollte sie zu Fuß kommen.
"Kommt er zu deinem Geburtstag?"
"Nein! Jess, niemand weiß von ihm."
"Das stimmt nicht", fällt sie mir ins Wort.
Ich verdrehe die Augen.

"Na gut, nur du und Tante Jennifer wissen von ihm. Und das muss auch so bleiben! Du kennst meine Eltern. Das werden sie niemals dulden, Zuhause würde mich die Hölle auf Erden erwarten. Jess, bitte."
Flehen umfasse ich ihren Unterarm mit beiden Händen und drücke leicht zu.

"Du musst mir versprechen, keiner Menschenseele davon zu erzählen."
Ein gekränkter Ausdruck huscht über ihr Antlitz. Sie verzieht du dunklen Lippen.
"Glaubst du wirklich, ich würde losrenne und dein kleines Geheimnis in der Weltgeschichte herumerzählen?"

"Nein, sonst hätte ich dir erst gar nicht von ihm erzählt."
Verzweifelt lege ich den Kopf in den Nacken und suche nach den richtigen Worten.
"Es ist kein kleines Geheimnis. Für mich und für ihn ist das eine große Sache, die natürlich nicht für immer ein Geheimnis bleiben soll. Aber für den Moment gibt es noch eine Menge, die wir ... klären müssen. Zwischen uns, allein. Verstehst du? Da brauche ich meine Eltern nicht, die alles noch viel komplizierter machen oder neunmalkluge Bemerkungen von anderen Menschen. "

"AJ?", fragt sie mit belegter Stimme.
Er ist einer unserer engsten Freunde, ohne ihn könnten wir uns unser Leben nicht mehr vorstellen, aber sie weiß genauso gut wie ich, dass seine Ansichten und Kommentare manchmal ins Extrem übergehen.
"Unter anderem", seufze ich und löse meine Hände von ihrer weichen Haut.
"Ach Ophelia."

Darauf kann ich nichts erwidern.
Ich kann nur in ihre blauen Augen schauen und die Lippen zusammenpressen.
Ja, ach Ophelia.
Ich habe das Gefühl mein Leben wird von Tag zu Tag komplizierter.
Auch wenn Jess jetzt Bescheid weiß, löst das nichts von den Problemen und ungeklärten Fragen, die in Tante Jennifers Wohnung auf mich warten.

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Song: Waves - Dean Lewis

Hoiii :3

now jess knows, wuup. Das musste einfach ein extra Chapter werden, cuz bffs und so xD

Bei mir ist der Herbst schon angekommen (regen, 14°) & bei euch so?

In diesem Sinne, schönen 1. Juli xD

All my Love,
Lisa xoxo

almost Hate [ᴬ ᴸᵒᵛᵉˢᵗᵒʳʸ]✔Donde viven las historias. Descúbrelo ahora