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Die Uhr an der Wand tickt unaufhörlich und erinnert uns alle daran, dass die Zeit unaufhaltsam vergeht.
Gerade hat sich Jace mit zitternder Hand die Beatmungsmaske von seinem Gesicht gerissen. Wir alle wissen, was gleich kommt. Mir wird schlecht.
Vor den Fenstern des Krankenhauses bricht die Sonne für ein paar Sekunden hinter der Wolkendecke hervor, taucht das Zimmer in weiches Licht.

Vor ein paar Tagen hatte ich mir diese Helligkeit herbeigewünscht und wäre froh über das weiche Licht gewesen, jetzt tut es in meinen überreizten Augen einfach nur weh.
Ich höre, wie sich Isabell vom Fußende des Bettes entfernt. Die Schwestern haben uns alleine gelassen, wir wissen, was zu tun ist; Jace einfach eine Schale unter das Gesicht halten.

Ich weiß nicht mehr, wann das mit dem Übergeben angefangen hat. Vor zwei Tagen? Drei?
Ich weiß gar nichts mehr, mein Körper ist hier, aber ich nehme nicht mehr bewusst wahr, was um mich geschieht.
Ich stütze seufzend den Kopf in meine Hände, langsam habe ich das Gefühl, verrückt zu werden.

Auf der anderen Seite des Bettes sitzt Margret und streicht ihrem Sohn beruhigend über den Arm.
"Ganz ruhig."
Ich wünschte, ihre warme Stimme könnte auch mich beruhigen.
Mein Magen beginnt ebenfalls zu rumoren und ich presse eine Hand auf die Kuhle in meinem Oberkörper, um das Geräusch zu unterdrücken.

Jaces Zustand hat sich in den letzten Tagen dramatisch verschlechtert.
Er kann eigentlich nichts mehr zu sich nehmen, kann das Bett nicht mehr verlassen und schläft viel.
Ich im Gegensatz habe überhaupt nicht geschlafen. Eigentlich grenzt es an ein Wunder, dass ich mich auf diesem Stuhl aufrecht halten kann.

Aber ich bin in den letzten Tagen eben über meine bekannten Grenzen des Möglichen hinausgeschritten.
Ich habe kaum etwas zu mir genommen, außer dem scheußlichen Krankenhauskaffee und den weichen Brötchen, die Isabell mir von irgendwo außerhalb der Krankenhausmauern mitgebracht hat.
Sie und ihre Mutter ziehen sich öfter zurück, gerade diese Zeit nutze ich aus und bleibe mit Jace zurück.

Ich habe meine Kleidung nicht gewechselt und mir in den letzten achtundvierzig Stunden nicht die Zähne geputzt. Etwas, dass ich mir früher nie angetan hätte.
Ich habe nicht mehr geduscht.
Und ich habe nicht mehr gelacht, seitdem die dünnen Schläuche mit Sauerstoff aus Jaces Nase entfernt wurden und gegen eine Beatmungsmaske eingetauscht wurden.

Dabei habe ich mich gerade erst an diese neue, fröhlichere Ophelia gewöhnt, die Jace aus mir hervor gekitzelt hat.
Ich befürchte, dass sie mit ihm sterben wird.
Sein träger Blick fällt auf mich, während er vorgebeugt darauf wartet, sich zu übergeben.

Ich habe ihm schon zu oft dabei zugesehen, wie er immer und immer wieder den Inhalt seines Magens in grauen Pappschalen entleert hat und danach in einen betäubten Dämmerzustand abgedriftet ist.
Er ist zu dem geworden, vor dem er weglaufen wollte. Diesen Gedanken ertrage ich nicht.

Ich wende mich von den eingefallenen grünen Augen ab und schüttele meine verkrampften Hände aus, stehe auf.
Jace beugt sich vor und es sieht beinahe so aus, als wolle er das letzte bisschen Leben aus seinem Inneren würgen.

Ich lege meine Hand über den Mund, ersticke damit mein Entsetzen.
Ich ertrage dieses Geräusch nicht mehr. Margret und Isabell werfen mir einen verständnisvollen Blick zu, während ich auf die Tür zusteuere.
Die silberne Klinke kommt immer weiter in Reichweite.

Meine Knie sind so weich, dass ich mich auf jeden weiteren, langsamen Schritte konzentrieren muss.
Aus dem Augenwinkel sehe ich Jace, wie er seinen Kopf drehe und zu mir sieht.
Ich halte inne.
Seine Haut glänzt von kaltem Schweiß, sein blaues Krankenhaushemd ist verrutscht und hat die schwarze Klaue an einer Schulter freigelegt.

Die Klaue unter seiner Haut scheint in den letzten Tagen die Oberhand gewonnen zu haben und Jace immer weiter in den Abgrund zu zerren. Sie hat ihn immer irgendwie zurückgehalten und jetzt zieht sie ihn mit.
Seine Lippen sind von all dem Erbrechen ganz aufgesprungen.

Er öffnet den Mund, ich sehe, wie sich seine Finger aus der Bettdecke lösen, in die er sich bis eben geklammert hat. Seine Augen flehen mich an zu bleiben, nicht vor ihm davonzulaufen.
Ich will ihm sagen, dass es mir leid tut oder dass ich gleich zurückkomme, nur eine kurze Pause brauche. Aber ich kann nicht.

Ich starre lediglich in die unergründliche Tiefsee, die ihren Glanz verloren hat und wende ihm schließlich voller Schuldgefühle den Rücken zu.
Ophelia, die Gewinnerin, räumt geschlagen das Feld. Es fühlt sich an, als würde etwas in meinem Inneren brechen.

Wie oft hat Jace mir die Bedeutung meines Namens im Streit an den Kopf geworfen, wenn ich nicht nachgeben wollte und auf meiner Sichtweise beharrt habe?
Wie oft nannte er mich so, um mich zu necken, eine Reaktion aus mir herauszukitzeln?
Auch wenn ich meinem Namen manchmal alle Ehre machen konnte, räume ich jetzt geschlagen das Feld.

Ich bin nicht mehr die strahlende Gewinnerin , die Jace in mir gesehen hat, bin es wahrscheinlich nie gewesen.
Jetzt bin ich nur noch ein Mädchen mit verquollenen Augen und belegter Stimme.
Ich ziehe die Tür hinter mir zu.

Die halb vertrocknete Zimmerpflanze teilt den Flur mit mir.
Ich starre ihre Silhouette aus der Ferne an, bis ich mich nicht mehr aufrecht halten kann und in mich zusammensacke.
Tränen, die ich seit Tagen zurückgehalten habe, strömen über meine Wangen und nehmen mir die Sicht, noch bevor ich auf dem Boden ankomme.

Ich habe immer so großspurig behauptet, ich wüsste, worauf ich mich einlasse. Ich habe gar nichts gewusst und ich weiß noch immer nichts.
Dr. Martens hat uns gestern bei seiner morgendlichen Visite mitgeteilt, dass sich Jaces Zustand in den nächsten Tagen noch verschlechtern wird.

"Für eine solche Krankheit gibt es keinen Verlaufsplan, auf den wir uns berufen können. Sein Zustand kann sich noch Tage, vielleicht sogar einige Wochen so hinziehen."
Und dann hat er nach einer endlos langen Pause, in der ich auf Margrets silbernen Armreif gestarrt und mir vorgestellt habe, wir säßen in ihrer Küche, gesagt: "Er kann aber auch in den nächsten Tagen versterben."

Die Tür zu meiner Linken öffnet sich leise. Ich erkenne Isabells blaue Schuhe, die mir gegenüber zum Stehen kommen.
Sie sagt nichts, nur mein Schluchzen ist zu hören, wie es von den weißen Wänden abprallt und wieder zurückgeworfen wird.

Es fühlt sich an, als bestünde ich aus einem einzigen Scherbenhaufen.
Jace Körper zerstörte sich selbst und ich bin dabei zuzusehen, wie er diesen Kampf verliert.
Wir sind dabei zuzusehen.
Die blauen Schuhe kommen zögerlich auf mich zu.

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Song: Mountains of the Moon - Bayou

Hi my Loves! Ich muss cutten Leute, sorry. Morgen kriegt ihr Teil 2 von dieser Szene. Wie ich immer "Szene" sage xD

An den folgenden Kapitel feile ich wirklich rum! Sie sollen authentisch werden, nicht zu dramatisch und auch nicht zuuuu kitschig.

Lasst gerne eure Gedanken hier.
Ich freue mich immer sie zu lesen, an dieser Stelle der Geschichte besonders.

All my Love,
Lisa xoxo

almost Hate [ᴬ ᴸᵒᵛᵉˢᵗᵒʳʸ]✔Where stories live. Discover now