6.

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An diesem Tag nehme ich nach meinem letzten Kurs die Straßenbahn und fahre in den Stadtkern von Madison.
Dort haben meine Mutter und ich uns für den Nachmittag zur Kleideranprobe für die bevorstehende Gala verabredet.
Ich kann es kaum erwarten, diesen Termin hinter mich zu bringen.

Meine Mutter liebt schöne Kleider. Ich nicht.
Ich kaue auf meiner Unterlippe herum und bin mit den Gedanken ganz woanders, als ich vor der kleinen Boutique zum Stehen komme.
Sie liegt abseits der großen Kaufhäuser in einer ruhigen Seitenstraße, in der sich nur ein paar Fahrradfahrer und Passanten tummeln.

Im blank geputzten Schaufenster sticht mir sofort ein kurzes schwarzes Kleid ins Auge.
Die Stoffe und Schnitte der restlichen,  weit ausladenden Röcke lässt auf ihre Preise schließen.
Ich atme einmal tief durch, stoße die Glastür mit weißem Holzrahmen auf und lasse das warme Sonnenlicht hinter mir, das ich in den letzten Wochen so vermisst habe.

Ein helles Glöckchen verrät mein Eintreffen.
Ich ziehe mir die Mütze vom Kopf und versuche mein langes Haar flüchtig mit den Fingern durchzukämen.
Meine Sohlen quietschen, als ich die ersten Schritte auf den Marmorfliesen zurücklege.

Von einer Sekunde zur anderen befinde ich mich zwischen Pastelltönen und Rüschen. Zudem liegt ein süßlicher Geruch in der Luft.
Eine zierliche, schwarzhaarige Frau kommt aus dem hinteren Teil des Ladens.
Um ihre Augen bilden sich kleine Falten, als sich mich herzlich anlächelt.

"Sie müssen Ophelia sein. Ihre Mutter wartet bereits."
Ich umschließe die Hand, die sie mir freundlich entgegenstreckt und reiche ihr meinen Mantel.
Eigentlich müsste ich jetzt in meinem Zimmer sitzen und Jahreszahlen für meine nächste Geschichtsklausur pauken.

Mit schnellen Schritten werde ich durch den Laden hinter einen gelben Vorhang geführt. Er hat fast dieselbe Farbe wie mein Pullover.
Dahinter erstreckt sich ein etwas privaterer Bereich mit Sitzecke und Ankleiden.
Ich schaue mich um und entdecke meine Mutter mit kerzengeradem Rücken an einem Fenster stehen.

Angespannt umklammere ich meine Taschen.
Ich kann mich fast nicht mehr erinnern, wann ich sie das letzte Mal gesehen habe.
Es muss Wochen her sein. Meistens bekomme ich es nicht mit, wenn sie sich ins Haus schleicht, um neue Anziehsachen zu holen oder kurz mit Dad zu sprechen.

"Hi Mom", kommt es leise über meine Lippen.
Augenblicklich dreht sie sich um.
Ich erkenne Unsicherheit in ihrem stark geschminkten Gesicht.
Sie sieht älter aus, als noch vor ein paar Wochen.

Ihre Augen liegen tief in ihrem Gesicht und der Mund ist nicht mehr als ein strenger Strich, auch wenn sie sich zu einem Lächeln bemüht.
"Ophelia. Da bist du ja."
Ich habe ihre Stimme vermisst.

Zögerlich gehen wir aufeinander zu, keiner scheint sicher zu sein, was als Nächstes zu tun ist.
Doch dann nimmt sie mich in den Arm - nicht ohne vorher meine ramponierte Handtasche zu mustern - und ich vergrabe mein Gesicht an ihrem Hals, atme ihren Geruch ganz tief ein.
"Ich habe dich vermisst, Mom."
"Ich weiß, mein Schatz." Sie streicht über meine Wange.

Ich würde sie gerne fragen, wann sie endlich wieder ganz zurück nach Hause kommt, aber die Verkäuferin tritt an uns heran und reicht mir das erste Kleid.
Mit einem freundlichen Nicken weist sie mich zur Umkleidekabine. Sie kann schließlich nicht ahnen, dass das hier das erste Mal seit langer Zeit ist, dass ich mich mit meiner Mutter im selben Raum befinde.

Mit einem schwachen Lächeln greife ich nach dem Kleid und verschwinde hinter einem weiteren gelben Vorhang.
Ich widerstehe dem Drang, mich einfach an der Wand heruntergleiten zu lassen, Löcher in die Luft zu starren und über meine Mom nachzudenken.

Sie wirkt mir gegenüber so distanziert. Ich weiß gar nicht mehr, wie ich überhaupt mit ihr reden soll.
Eigentlich weiß ich gar nicht mehr, wer diese Frau da draußen überhaupt ist, die sich meine Mutter nennt.
Wie gerne würde ich jetzt einfach zu ihr rennen und mich wieder in ihre Arme werfen, versuchen zu verstehen, warum sie dabei ist, uns zu verlassen.

almost Hate [ᴬ ᴸᵒᵛᵉˢᵗᵒʳʸ]✔Where stories live. Discover now