28.

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Ich streiche mir nervös eine blonde Strähne aus dem Gesicht.
Der Zug bremst und ich werde in die Schulter meines Nachbarn gedrückt.
Ich murmle eine Entschuldigung, doch er sieht mich nicht einmal an. Ich wünschte, er würde etwas sagen, mich anmerken, mich irgendwie auf andere Gedanken bringen, mich ablenken.

Ich starre ihn von der Seite an, beinahe provozierend.
Doch er macht den Mund nicht auf, ignoriert mich und so bleibt mir nichts anderes übrig, als mich meinen nagenden Gedanken hinzugeben.
Nur noch ein paar Minuten. Dann werden wir Fitchburg erreichen.

Und ich werde erfahren, ob ich ab Morgen mit AJ mitfahre.
Fast hoffe ich, dass er nicht da ist. Einfach um dieser ganzen Sache ein Ende zu setzen.
Die Türen vor mir öffnen sich, ohne das ich überhaupt bemerkt habe, dass wir in den Bahnhof eingefahren sind.

Ich mache den ersten Schritt nach draußen in die frische Luft.
Mittlerweile habe ich mich an die muffige Luft im Zuginnern gewöhnt.
Trotzdem atme ich tief durch, schließe die Augen und laufe zwei Schritte blind mit der Menge aussteigender Passagiere.

Und dann folge ich ihren Schritten Richtung Ausgang, ohne mich umzusehen. Ich lasse mich von ihnen mitreißen, wie ein Stein in der Brandung der Wellen am Strand.
Die Unterführung nähert sich und ich fühle eine Last von meinen Schultern fallen, während sich eine neue auf meiner Brust ansammelt und mich beinahe zu ersticken droht.

Ich ramme meine Füße in den Boden und komme zum Stehen. Die Beschwerden hinter mir nehme ich gar nicht wahr.
Ich drehe mich einfach ganz langsam um und schaue zum Getränkeautomaten.
Und da steht er und schaut mir hinterher.

Seine Augen sind groß, sein Mund leicht geöffnet.
Es sieht so aus, als ob er mir hinterherrufen wollte, es sich aber im letzten Moment anders überlegt hat.
Ich bleibe an Ort und Stelle stehen und umklammere meine Tasche, mit der alles vor drei Wochen angefangen hat.

Ich schenke Jace ein Lächeln und beobachte fasziniert, wie sich seine Schultern absenken.
Wir starren uns einfach an, dutzende Menschen durchqueren die Luftlinie zwischen uns, bis ich endlich den nächsten ersten Schritt mache; auf ihn zu. Und vielleicht ist das der eine, besondere Moment, in dem die Mauer aus Stein in meinem Inneren den alles entscheidenden Riss bekommt.

"Hey."
Seine Stimme klingt rau, heiser.
"Hi."
Meine viel zu hoch und verunsichert.

Verlegen lächeln wir uns an.
"Ich dachte schon, du wolltest ohne mich los", sagt Jace dann und schultert seinen Rucksack.
"Wie könnte ich das wagen?", scherze ich und frage mich, wo dieser Rucksack beim letzten Mal war.
"Wie war dein Tag?", fragt seine dunkle Stimme.

"Nein!"
Ich hebe den Zeigefinger in seine Richtung. Er hebt eine Augenbraue.
Kurz vergesse ich, was ich sagen wollte. Diese einfache Bewegung lässt sein Gesicht so anders aussehen, so ... provokant. Sein rechter Mundwinkel hat sich mit nach oben bewegt und ich kann nicht anders, als auf seine Lippen zu schauen.

"Dieses Mal bin ich zuerst dran. Wie war dein Tag?", frage ich nach einem Räuspern und sage mich von seinem Mund los.
Dennoch bemerke ich aus dem Augenwinkel, wie er sich über die schmalen, geschwungenen Lippen leckt.

"Gut."
"Das ist alles, was ich kriege?"
Ich senke den Kopf und sehe ich herausfordernd durch meine Wimpern an.
Er lacht leise auf.

Die Unterführung über unseren Köpfen verschwindet und gibt den endlos scheinenden Himmel frei, der blau erstrahlt.
"Frag genauer."
Ich überlege. Ich will nicht zu persönlich werden.

"Was hast du heute Morgen gefrühstückt? Ich habe dir nämlich ein Brötchen mit Schinken und Salat mitgenommen, aber du warst nicht da."
"Wo ist das Brötchen jetzt?"
"Keine Gegenfragen!"

Doch weil Jace seinen Blick nicht von mir nimmt, füge ich nach einer Weile hinzu: "Ich habe es an einen Freund verscherbelt."
Jaces Kopf dreht sich schnell zur anderen Seite.
"Er ist nur ein Freund", sage ich betont.

Ich verstehe selbst nicht genau, warum ich diese Aussage so klarstellen will.
AJ wird nie mehr als nur ein Freund sein.
Jaces grüne Augen haften sich trotzdem weiterhin auf den Asphalt vor uns.
"Hey? Wo bleibt meine Antwort?"

Meinem verspielten Ton gelingt es, dem jungen Mann neben mir ein Grinsen zu entlocken.
"Nichts", antworte er dann knapp.
"Was?"
Jetzt bin ich diejenige, die die Augenbrauen hebt. Ich habe allerdings noch nie das Talent besessen nur eine von ihnen zu bewegen.

"Ist das etwa die erste Antwort, die dir nicht gefällt?"
Ich verdrehe die Augen und ignoriere seinen Seitenhieb.
"Gewöhn dich dran, wenn du dich weiter mit mir unterhalten willst."
Jaces Stimme klingt noch dunkler in meinen Ohren als zuvor.

"Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich das Brötchen aufgehoben", sage ich kleinlaut.
"Oh, ich glaube, ein Brötchen könnte meinen Hunger nicht stillen."
Fragend sehe ich zu ihm hoch. Mittlerweile hat sich mein Nacken an diese Position gewöhnt und genießt diese abstrakte Haltung beinahe.

"Es ist eine andere Art von Hunger."
Ein Schatten huscht durch seine Augen, verwandelt funkelndes grünes Gewässer in dunklen Laubwald.
"Ich verstehe nicht."

"Musst du auch nicht."
Jace schiebt seine Mütze zurück und wieder frage ich mich, wie er wohl ohne sie aussehen würde. Ich möchte seine Locken ohne den schwarzen Stoff sehen.
Wenn ich ehrlich zu mir bin, möchte ich meine Finger durch sie fahren lassen.

Ich beiße in meine Unterlippe und wende den Blick von seinem Seitenprofil ab.
Gerade will ich eine weitere Frage stellen, da klingelt mein Handy.
Ich drücke den Anrufer weg. Es war nur Ben. Der kann warten.
Jace sagt nichts, aber seine Augen vermitteln mir deutlich, dass er der Meinung ist, dass ich besser hätte abnehmen sollen.

Ich schiebe mein Handy zurück in die Jackentasche, da erklingt die Stimme von Harry Styles erneut.
"Du kannst ruhig rangehen."
Jaces Lippen bewegen sich hypnotisch langsam.
Ich will protestieren, sagen, dass mein dummer Bruder uns dann wertvolle Minuten rauben würde.

Aber ich gebe mich geschlagen und nehme den Anruf an.
"Mom! Du musst schnell kommen, sie -"
"Was?"
Augenblicklich liegt meine ganze Aufmerksamkeit bei Ben. Jaces Wärme neben mir rückt in den Hintergrund.

"Ben, was ist passiert?"
"Sie - ich weiß nicht. Ophelia, du musst nach Hause kommen!"
Ich ringe nach Atmen.
"Ich bin nur noch ein paar Straßen entfernt, ich bin sofort da."

Ich lege auf und verfalle in einen Laufschritt, ohne auf meinen Begleiter zu achten.
"Was ist passiert?"
Jace holt zu mir auf, als ich mich zu ihm drehe, bemerke ich seine angestrengt zusammengekniffenen Augen.

"Meine Mutter, sie ... ich weiß es nicht. Irgendetwas stimmt nicht mit ihr. Mein Bruder war völlig aufgelöst, das ist er sonst nie."
Grüne Augen lesen in meinen, bevor ich meinen Blick wieder auf den Weg vor uns richten kann.
Ich biege um die letzte Straßenecke.

In unserer Einfahrt steht bereits ein Krankenwagen.
Ich bleibe stehen, kann mich plötzlich keinen Millimeter mehr bewegen.
Jace kommt völlig außer Atem neben mir zum Stehen.
"Scheiße", flucht er und beugt sich nach vorn.

"Das kannst du wohl laut sagen", stimme ich ihm zu.
Er sieht nicht zu mir auf, doch ich kann nicht darauf warten, dass er seinen Blick wieder zu mir hebt.
Ich muss zu meiner Mutter.
"Wir sehen uns, ja?"

Beiläufig fasse ich an seine Schulter, die jetzt, wo er immer noch vornüber gebeugt ist, so leicht zu erreichen ist wie noch nie.
Er sieht flüchtig auf, aber ich nehme nur noch die Bewegung von seinem Kopf wahr, denn ich befinde mich schon halb auf der Straße, überquere sie in schnellen Schritten und laufe die Einfahrt hoch, vorbei am Krankenwagen, auf die sperrangelweit offenstehende Haustür zu.

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Song: The Archer - Taylor Swift

Und hiermit erkläre ich diesen Song offiziell zu unserem Theme-Song!!! <3 

Wer von euch kann eine Augenbraue heben? I can xD

I'm sorry, i have no time left! So bye, see ya tomorrow :*

All my Love,
Lisa xoxo

almost Hate [ᴬ ᴸᵒᵛᵉˢᵗᵒʳʸ]✔Where stories live. Discover now