Epilog.

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Der nächste Sommer

Eine Revolution beginnt mit einem kleinen Schritt in die richtige Richtung.
Und es fühlt sich verdammt gut an, diesen ersten Schritt zu machen.
Die Sonne scheint durch die Windschutzscheibe und ich schiebe meine Sonnenbrille auf der Nase zurecht.

Ich fahre am Guntflint Trail Park vorbei. Unserem Park. Es ist ein Umweg, den ich auf mich nehme, weil ich ihn heute einfach sehen muss.
Ich passiere die weitläufige Wiese und blicke immer wieder nach links aus dem Fenster, um all die Menschen auf der grünen Fläche zu sehen. Ich kann vereinzelte Picknickdecken ausmachen und stelle mir vor, wie Jace und ich vor einem Jahr genau dort gelaufen sind, wo meine Augen jetzt auf eine junge Frau mit Hund an der Leine treffen.

Ein breites Lächeln bildet sich auf meinem Gesicht bei der Erinnerung daran, wie ich vor gesprintet bin, zu der Reihe alter Eichen, mich umdrehte und Jace dabei beobachtete, wie er zu mir geschlendert kam. Der Wind zerzauste seine braunen Locken, eine Hand in seiner Hosentasche. Ich habe ihn geliebt. Ich werde ihn immer lieben.
Ich erinnere mich an einen glücklichen Tag.

Der letzte Sommer gehört zur besten Zeit meines Lebens und dafür möchte ich Jace danken.
Ich möchte ihm noch einmal um den Hals fallen, meine Lippen an seine Haut schmiegen und mich bedanken, auch wenn er mich immer wieder gerügt hat, dies nicht so oft zu tun.
Ich möchte ihm für seine Liebe danken und all die Zeit, die er mit mir verbracht hat, für all die Dinge, die er mich gelehrt hat.

Am heutigen Tag bin ich dankbar. Ohne die herzzerreißende Trauer.
Sie wird wiederkehren und mich in einem schwachen Moment überwältigen. Das ist so sicher wie der Sonnenuntergang heute Abend um 20:52 Uhr, den ich mir vom Strand aus, mit den Füßen im Sand ansehen werde.

Ich setze den Blinker und fahre auf den Highway.
In meinem Kofferraum zwei Taschen mit Kleidung und einem Fotoalbum voller Erinnerungen.
Ich lasse Fitchburg für einen unbestimmten Zeitraum hinter mir.
Fortlaufend glich mein Leben in dieser Stadt einem Trümmerfeld. Ich bin von einer Katastrophe in die nächste geschlittert.

Dieses Pflaster tut mir nicht mehr gut. Wahrscheinlich tat es das noch nie.
Es gibt zu viele schlechte Menschen hier, zu viele schlechte Erinnerungen.
Meine Familie ist hier zugrunde gegangen und ich habe den festen Entschluss gefasst, ihnen nicht in den Abgrund zu folgen. Ich habe es Jace versprochen.

Er sagte immer, ich solle nichts versprechen, was ich nicht halten kann, aber dieses Versprechen - das weiß ich - kann ich halten. Weil ich muss.
Für Jace. Weil er mir von Anfang an gesagt hat, dass ich Abstand zu meiner Familie gewinnen soll, weil sie mir nicht guttun. Weil er recht hatte. Immer.
Und weil ich für ihn weiterleben muss, wenigstens ein bisschen.

Ich werde mich morgen mit Tante Jennifer in Milwaukee treffen. Von dort an werde ich mich vom Wind treiben lassen. Ich weiß noch nicht, wohin es uns verschlagen wird, ab wann ich auf mich allein gestellt sein werde und wann ich mich dazu entscheiden kann, welche Richtung mein Leben einschlagen soll.
Zum ersten Mal fühle ich eindrücklich, dass ich ein freier Mensch bin.

Das Geld meiner Eltern war schon nach Jaces Beerdigung so gut wie aufgebraucht.
Als ich wieder in die Uni gehen konnte, habe ich angefangen in dem kleinen Pub zu kellnern, in dem Jess, Jace und ich uns des Öfteren getroffen hatten. Ich brauchte nicht nur das Geld, sondern auch die sozialen Kontakte, die wahrscheinlich- langfristig betrachtet - meinen gesunden Menschenverstand gerettet haben.

Auch, wenn das alles nicht leicht war, es hat sich so gut angefühlt, Dads Geld für etwas wirklich Gutes ausgegeben zu haben.
Auch, wenn Margret vermutlich nie aufhören wird, mir für diese Geste zu danken.
Es tut weh, sie und Isabell hier zurückzulassen, aber wir haben einander fest versprochen, in Kontakt zu bleiben.

Ein weiteres Versprechen, von dem ich weiß, dass ich es halten werde.
Sie halten Jace gemeinsam mit mir am Leben.
Ich drehe die Musik lauter und lasse das Fahrerfenster herunter. Die Luft riecht so wie vor ein paar Wochen, als ich gemeinsam mit Jessica und AJ meinen Abschluss in Business und Art History gemacht habe.

Das Bild von uns gemeinsam mit Isabell und Margret klebt ganz vorne in meinem Fotoalbum. Ein Bild von mir und meinen Eltern gibt es von diesem Tag nicht.
Sie waren da, lernten Jaces Familie kennen und bekräftigten all meine Abneigung ihnen gegenüber.
Aber das ist mir jetzt fast egal. Die Menschen, die zusammen mit mir in die Kamera strahlen, sind diejenigen, die mir wirklich wichtig sind und denen ich erlauben werde, mein Herz zu brechen.

Ich lasse meine Hand aus dem Fenster hängen, gleite mit den Fingern durch den Gegenwind.
Das Leben mag weiter gehen, aber ein kleiner Teil von mir ist in der Zeit zurückgeblieben, in der Jace noch lebt. Und ich glaube, das ist gut so.
Immerhin hat er mir beigebracht zu leben und so kann er mich hin und wieder daran erinnern, genau das zu tun.

Zu leben. Für ihn. Und für mich.

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Song: The Archer - Taylor Swift

almost Hate [ᴬ ᴸᵒᵛᵉˢᵗᵒʳʸ]✔Où les histoires vivent. Découvrez maintenant