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Zwei Latte Macchiato werden mit einer geschmeidigen Handbewegung vor uns abgestellt.
Wir haben uns in meinem Lieblings-Coffeeshop in die hinterste Ecke gesetzt, die Beine unter den Stühlen verschränkt, weil wir uns ansonsten unter dem runden Tisch ins Gehege kommen würden. Mein linkes Bein schläft die ganze Zeit ein und ich versuche mein Bestes, keine Grimassen zu ziehen, wenn ich meine Zehen bewege.

Jace hat seine Jacke abgelegt und sitzt mir in einem abgetragenen, moosgrünen Strickpullover gegenüber.
Trotzdem wirkt er in diesem Café eher wie ein Student, als wie ein Obdachloser.
Sein Kragen sitzt schief und er muss ständig seine Ärmel wieder hochziehen, da der ausgeleierte Stoff sich bei jeder seiner Bewegungen verselbstständigt.

Seine Haare wirken kaum gebändigt, stehen immer noch wild von seinem Kopf ab, obwohl er seit den letzten zehn Minuten unaufhörlich durch sie fährt.
"Na dann."
Ich proste Jace zu, dieser schließt die Augen, als er den ersten Schluck nimmt.

"Das ist der beste Kaffee, den ich seit langem hatte. Danke", sagt er aufrichtig, als er sein Glas abgestellt hat.
Ich will abwinken, doch Jace greift über den Tisch nach meiner Hand.
Seine langen Finger sind warm. Zum ersten Mal sind sie warm, als sie meine Haut berühren.

"Wirklich, danke. Ich glaube, du hast keine Ahnung, was es für mich bedeutet, noch mal in so einem Café zu sitzen und Kaffee zu trinken."
Seine Augen bohren sich in meine, lassen mich meine Worte vergessen.
Meine linke Hand legt sich über seine.

"Bitte."
Jace leckt sich über die Lippen, drückt meine Hand und entzieht mir seine.
Meine Hände bleiben verloren auf der kleinen, runden Tischplatte zurück, bis ich sie unter dem Tisch verschwinden lasse.

"Was meinst du mit noch mal?", frage ich nach einer kleinen Pause.
Jace zuckt zusammen.
"Ich, ähm ..."
Zum ersten Mal sehe ich, wie Jace Brighton die Worte fehlen.

Seine grünen Augen wandern umher, scannen die umsitzenden Gäste und ihre Bestellungen.
"Wenn man erstmal auf der Straße gelandet ist, glaubt man irgendwann nicht mehr daran, zurück ins richtige Leben zu finden."
Verbittert presst er seine Lippen zu einem schmalen Strich.

Meine Finger fahren am Rand meiner Serviette entlang, während ich mir einen Satz zurechtlege, mit dem ich ihn wieder aufmuntern kann.
Seitdem wir das kleine Café betreten haben, in das ich komme, seit ich ein Teenager bin, hat sich etwas an ihm verändert.

Zuerst wirkte er ganz steif, so als müsste er sich daran erinnern, wie man sich in einem solchen Etablissement verhält.
Und dann hat er plötzlich alles mit so großen Augen angesehen und eine Schuld steht in seinem Gesicht geschrieben, die ich beim besten Willen nicht verstehen kann.

"Aber ...", ich hole tief Luft, "nur weil man obdachlos ist, heißt das doch nicht automatisch, dass man dies sein Leben lang sein muss."
Ich knicke den Rand der Serviette ein, fahre immer und immer wieder über das entstandene Dreieck.
Ein kleines Kind schreit drei Tische weiter und wird von seiner Mutter auf den Holzfußboden gesetzt.

Ich blicke auf, sehe sein angespanntes Gesicht, mustere ihn. Der Schatten von seinem blauen Auge ist mittlerweile völlig verschwunden.
Als er bemerkt, dass ich ihn ansehe, entspannt er sich und versucht ein Lächeln.
"Am Anfang hoffst du vielleicht, glaubst an ein Wunder. Aber irgendwann ist eine naive Hoffnung gefährlicher als aufgeben, annehmen und akzeptieren. Die Hoffnung ist manchmal reiner Selbstmord. Ich lebe mit dem, was ich habe und versuche, dass Beste daraus zu machen."

Er zuckt mit den Achseln und der dunkelgrüne Stoff seines Pullovers rutscht über eine Schulter.
Feine Linien eines Tattoos werden sichtbar.
Auch wenn ich es studieren will, ich reiße meinen Blick los und konzentriere mich wieder auf Jaces Augen.

"Ich bewundere deine Einstellung, wirklich. Aber für mich ist aufgeben immer die letzte Möglichkeit. Das darf doch nicht dein Leben sein; unter freiem Himmel schlafen, ohne Schutz leben. Du bist doch noch so jung."
Besorgt lege ich die Stirn in Falten.
Jace lehnt sich in seinem Stuhl zurück und schaut die Wand hinter mir an.

Nach einem Moment des Schweigens sagt er: "Für jemanden, der alles hat und sich wahrscheinlich alles leisten kann, sind das leicht gesagte Worte."
Ich zucke zusammen, lehne mich ebenfalls zurück.
Seine Worte verletzen mich mehr, als ich es mir eingestehen will.

Ich presse meine Arme an meinen Oberkörper und schiebe die Finger unter meine Oberschenkel.
Sieht er mich so?
Sieht er ein verzogenes Mädchen vor sich sitzen, das glaubt, dass Leben ist ein Spaziergang, wenn man nur nicht aufgibt?

"Ich habe nie gesagt, dass es kein Kampf wäre. Nicht aufgeben bedeutet immer, einen Kampf anzutreten", sage ich langsam.
Meine Zunge fühlt sich taub an.
Sieht er mich an und glaubt, dass ich nicht weiß, was Schmerz, Verlust und Erschöpfung bedeuten?

Wenn dem so ist, dann hat er sich geschnitten.
Ich verkrampfe mich.
Ich trage so viel Leid und Verzweiflung in mir, dass ich mich an manchen Tagen nicht mal richtig aufrecht halten kann.

Der Kontostand meiner Eltern hat damit überhaupt nichts zu tun.
Aber dennoch ich verstehe, was er meint und ich wünschte, ich könnte diesen Teil von mir von meiner Haut abkratzen, abwaschen und für immer verschwinden lassen.
Egal, was in meinem Leben schieflaufen würde, ich würde nie auf der Straße landen. Weil ich eine Rosethorn bin.
Schuldig breche ich unseren intensiven Blickkontakt ab.

"Aber es gibt keinen gerechten Kampf mehr da draußen, den man kämpfen könnte", seufzt Jace und lehnt sich wieder vor.
Ich verweile auf Abstand, eine Furche auf der Stirn. Dieses Mal, weil ich ihn nicht verstehen will, weil ich seine Argumente nicht akzeptieren kann.

Ich will nicht, dass er sich aufgibt, will nicht akzeptieren, dass vor mir ein junger Mann sitzt, der sich bereits aufgegeben hat.
Ich kann vielleicht nicht alle Menschen in meinem Leben beeinflussen oder ändern, aber Jace ... Ich muss es wenigstens versuchen.

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Song: Horses - To Twelve

Hi :3

Warum ich heute so spät bin, obwohl Sonntag ist? Vielleicht weil ich 3 Stunden telefoniert habe xD

Ich hoffe, dass Kapi hat euch gefallen <3 teil 2 kommt morgen - i have to say, i like a lot, idk :) Sind wieder viele "harmonisch klingende" Sätze drin. Ich hoffe, dass konntet ihr rauslesen :) <3

All my Love,
Lisa xoxo

almost Hate [ᴬ ᴸᵒᵛᵉˢᵗᵒʳʸ]✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt