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Kurz bevor ich die Wohnung wieder verlassen will, fällt mein Blick auf ein Foto, das Jace und ich am Strand gemacht haben.
Ich habe es gleich in der darauffolgenden Woche nach unserem Ausflug eingerahmt und in das Bücherregal im Wohnzimmer gestellt.

Wir halten unsere sonnengebräunten Gesichter in die Kamera.
Jace zieht seine Nase kraus und mein Grinsen ist so breit, dass ich es beinah auf meinen Wangen nachempfinden kann.
Wir sehen glücklich aus. Verdammt, wir waren glücklich. 

Unsere Augen werden von Sonnenbrillen abgeschirmt und wir zeigen unser schönstes Lächeln, über uns strahlt der Himmel im tiefsten Blauton.
An diesem Tag schienen der Lungenkrebs und die Metastasen an seinen Rippen noch so weit entfernt.
Wir haben Erinnerungen gesammelt und ich weigere mich, in diesem Trip einen Abschied von Jace zu sehen.

Ich nehme das Bild in die Hand und fahre mit dem Daumen über den geriffelten Rahmen.
Das blonde Mädchen, das mich anstrahlt, hatte keine Ahnung, dass sie in weniger als einem halben Jahr am Sterbebett ihrer großen Liebe sitzen würde.
Sie hat im Moment gelebt und ihr Inneres mit Lachen gefüllt.

Ich wünschte, ich könnte nur für ein paar Minuten an diesen Tag zurückkehren und die Unbeschwertheit genießen.
Ich kann beinahe das Meeresrauschen hören und den Wind in meinen Haaren spüren, Jaces Finger auf meinem Rücken und die Buchseite vor mir, die ich nicht gelesen habe, weil vor mir das Meer war, das entfernte Kinderkreischen und das Lachen der Menschen um uns herum. Ich kann das Salz auf unserer Haut schmecken.

Doch ich kann das unbeschwerte Gefühl in meiner Brust nicht hervorrufen.
Ich stelle das Bild zurück an seinen Platz, knalle den Metallrahmen beinahe auf das weiche Holz. Die Geräuschkulisse des Strandes verschwindet und ich stehe wieder im Wohnzimmer.
Ich werfe keinen zweiten Blick mehr auf das Bild und verlasse die Wohnung, renne die Treppen hinunter und zu meinem Auto.

Das Gespräch mit meiner Mutter hat mich völlig aus der Bahn geworfen - der Bahn, in der ich mich schon lange nicht mehr befinde.
Ganz davon abgesehen, dass mich unser Gespräch wertvolle Zeit gekostet hat, die Sonne ist dabei unterzugehen.
Während ich geschlafen habe, muss es bereits geregnet haben.

Tausende Wasserperlen glitzern auf meinem Mini. Aber ich habe keine Zeit stehenzubleiben und die von Feuchtigkeit durchzogene Luft zu genießen, ich muss zu Jace.
Das Innere des Wagens riecht nach Krankenhaus. Weil ich nach Krankenhaus gerochen habe. Weil nach all der Zeit nicht mehr viel von meinem Körpergeruch übrigbleiben war.

Ich möchte weinen, als ich auf die Hauptstraße abbiege, aber ich halte die Tränen zurück, fahre mit zitternder Unterlippe bis zur Group Health Klinik.
Die ersten Regentropfen fallen, als ich zehn Minuten von Jace entfernt bin.
Beim Aussteigen werden meine Hosenbeine nasse.

Plötzlich bekomme ich Angst, ihn wiederzusehen. Ich habe das Foto von uns noch vor Augen. Ich habe den direkten, unverfälschten Vergleich zu einem Jace, den es nicht mehr gibt.
Als sich die Glastüren vor mir öffnen, überkommt mich eine Übelkeit - und das bevor ich den markanten Geruch des Krankenhauses in der Nase habe.

Meine Schuhsohlen quietschen auf dem Boden. Ich nicke der Frau am Empfang zu. Mittlerweile kennt sie mich und wirft mir keinen Blick zu, der an meinen geistigen Fähigkeiten zweifelt.
Meine Hand liegt schwer auf der Türklinke, als ich vor Jaces Zimmer stehe und mich gegen das, was mich hinter der Tür erwarten wird, wappne.

"Ophelia!"
Die Luft riecht besser, wesentlich besser. Sie müssen gelüftet haben.
Margret kommt auf mich zu und schließt mich in ihre Arme. Ich lege mein Kinn auf ihre Schulter und schaue zu Isabell hinüber, die sich auf einem der Stühle niedergelassen hat und in einer Zeitschrift blättert. Sie lächelt mich müde an.

almost Hate [ᴬ ᴸᵒᵛᵉˢᵗᵒʳʸ]✔Where stories live. Discover now