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Was ist nur aus meiner Wut geworden? Aus meiner Enttäuschung?
Dieses Geständnis ändert alles. 
Es rückt ihn wirklich in ein besseres Licht, das mich ihn bemitleiden lässt, so wie ich prophezeit und ihm entgegengeschrien habe.
Nur war ich mir die Bedeutung meiner Worte anscheinend nicht wirklich klar.

Ich möchte ihn fragen, was er mit mir gemacht hat. Denn ich bin mir ziemlich sicher, dass er eine Antwort darauf hätte. Aber ich traue mich nicht.
"Du kannst mich nicht einfach davon stoßen, wenn du mich bereits reingelassen hast. Das macht meinen Schmerz nicht weniger unerträglich", flüstere ich leise und lasse seine Hand los.

Jace rutscht auf der Matratze herum.
Die ganze Zeit über hat er mir zugehört, ohne eine für mich deutbare Regung zu zeigen.
Doch jetzt scheint er sich meiner Worte bewusst zu werden und sich auch darüber im Klaren zu sein, dass ich sie wirklich ernst meine.

Was macht das aus mir?
Jemand, der einen anderen Menschen bemitleidet und aus schlechtem Gewissen handelt oder jemand, der endlich alle Puzzlestücke beisammen hat und aus Überzeugung handeln kann?
Ich entscheide mich für letzteres und hoffe, dass Jace das auch so sieht.

Doch dieser kann mir nicht mehr in die Augen sehen und starrt an denselben Fleck an der Wand, an den ich noch bis vor ein paar Minuten gestarrt habe.
Ich betrachte seinen Tropf und schaue der durchsichtigen Flüssigkeit dabei zu, wie sie in den Beutel tropft und dann durch den dünnen Schlauch unter Jaces Haut verschwindet.

Schmerzmittel?
Meine Augen wandern über die gebräunten Arm, hinauf zu seiner Schulter, wo sich die klammernde Hand befindet und empor zu seinem Hals.
Er schluckt hart und senkt sein Kinn, sodass ich gezwungen bin, in seine Augen zu blicken.

Für ein paar Sekunden hält er meinem fragenden Blick stand, dann driftet er wieder ab.
Resigniert ziehe ich die Schultern hoch und überlege, was ich als Nächstes sagen könnte.
Doch Jace räuspert sich. Es hört sich mühsam und ... verlegen an.

"Ehrlich gesagt, habe ich die Drogen gestern Abend auch genommen, um den Abschied weniger schwer zu machen."
"Für dich vielleicht", sage ich.
Mein Unterton verrät, was ich von seiner Selbstsüchtigkeit halte.

Doch er schüttelt den Kopf.
"Nein. Nicht ausschließlich für mich. Ich habe gedacht, wenn du diese Seite von mir siehst, dann ... kannst du weitermachen wie bisher und all das einfach vergessen. Ich dachte, du würdest mich hassen und verstehen, dass du ohne mich besser dran bist."

"Oh."
Das ist alles, was über meine geöffneten Lippen kommt. Er hat sein Wissen über Ben gegen mich ausgespielt. Das trifft mich härter, als die Tatsache, dass er ohne einen Abschied verschwinden wollte.
"Ich hätte nie in diese Wohnung ziehen dürfen. Ich wusste, dass das falsche Signale an dich senden würde, aber ich konnte es dir nicht abschlagen. Da war so viel Hoffnung und Zuversicht in deinen Augen, als du mich herumgeführt hast."

Ich schließe meinen Mund.
Jace schaut auf ihn herunter, eine Emotion huscht über seine Züge, die ich nicht ganz deuten kann.
Trotzdem spüre ich, wie meine Wangen erröten.
"Du bist nun mal meine Schwäche, Ophelia Rosethorn. Du und deine verträumten Augen."

Ich beiße auf die Innenseite meiner Wange, um das Grinsen nicht preiszugeben, das an meinen Mundwinkeln kitzelt, und als er durch seine dichten Wimpern zu mir aufschaut, weiß ich, dass sich meine Wangen noch dunkler färben.
Wenn da nicht dieser dumme Tropf wäre, würde ich ihn an mich ziehen.

"Aber jetzt kenne ich die ganze Geschichte", bringe ich hervor.
Doch ein Zucken seines Mundwinkels sagt mir, dass dem nicht so ist.
Beinahe platzt eine weitere Frage aus mir heraus, aber ich beherrsche mich. Das hier ist genug. Das hier hat Jaces schon mehr als genug geschafft.

Ich sehe, wie müde seine Augen sind, wie kraftlos seine Schultern plötzlich nach vorne sinken.
Doch er setzt wieder an.
"Ich glaube immer noch nicht, dass du diesen Weg zusammen mit mir gehen willst. Ehrlich gesagt, möchte ich nicht, dass du diesen Weg mit mir gehst. Das ist nicht dein Platz."

Der Fakt, dass er bei den letzten harten Worten mit seinem Fuß gegen mein Bein stupst, lässt mich nicht ganz so verletzt zusammenzucken.
Dennoch tut es weh, von ihm zu hören, dass das hier nicht mein Platz ist.
Ich lege meine Stirn in Falten und betrachte die Stelle, wo sich unsere Knie berühren.

"Das hättest du dir vorher überlegen sollen, Jace Brighton."
Sein Name kommt ohne ein Stocken über meine Lippen. Ich ersticke nicht mehr daran.
"Du hast mich leider mit ins Boot gezogen und ich werde wohl oder übel mitfahren müssen."
"Bis es untergeht?", fragt er, Belustigung schwingt in seiner Stimme, die hier nicht hingehört.

Ich schlucke.
"Bis es untergeht", nicke ich.
Aber daran will ich nicht denken. Das wird nicht passieren. Es gibt Ärzte und es gibt Medikamente und es gibt Krankenhäuser wie dieses.

Und wenn eines von Jaces Problem das Geld gewesen ist, dann hat sich dieses in diesem Moment gelöst. Denn ich werde für ihn bezahlen. Alles.
Eine große, warme Hand greift nach meiner.
Als jetzt unsere von Tränen gefüllten Augen aufeinander treffen, hat sich etwas zwischen uns verändert.

Jace hat angenommen.
Jedenfalls für den Moment.
Für den Moment darf ich für ihn da sein und ihn halten, so gut ich kann.
Ich rutsche ein Stück näher und das Bett unter uns macht ein unschönes Geräusch.

"Wäre es jetzt sehr unpassend, wenn ich dich küssen würde?", frage ich verlegen.
So etwas habe ich noch nie gemacht; einen Jungen gefragt, ob ich ihn küssen darf. Bis jetzt hat sich aber auch noch nie ein Moment ergeben, in dem dies notwendig schien.
Jace lacht und schüttelt den Kopf über meine Frage.

Dann wird er ernster, das Funkeln in seinen Augen bleibt.
Er lehnt sich vor, seine Hand schließt sich fester um meine und alle Luft entweicht meinen Lungen, da sich mein gesamter Körper unter dieser einen, kleinen Berührung zusammenzieht.
Wir funktionieren einfach zusammen.

Alles, was er tut, hat einen direkten Einfluss auf mich.
Und alles, was ich tue, ist für ihn eine Selbstverständlichkeit, weil er weiß, was ich tun werde, bevor ich es selbst weiß.
Ich bin sein Schwachpunkt. Und er ist meiner.

Sein Atem riecht frisch. Minze mit ein bisschen Zitrone.
Doch sein Jace-Geruch ist nach wie vor das, was mich weiche Knie bekommen lässt.
Wenn ich nicht sitzen würde, müsst er mich halten. Etwas, das ich ihm in seinem benebelten Zustand nicht zumuten möchte.

Seine Nasenspitze berührt meine und ich schließe schon die Augen, da knallt die Tür an die Wand des Krankenzimmers.
"Oh! Na, ich will die jungen Leite ja nicht stören, aber ich muss mich wieder hinlegen."
Ein alter Mann mit grauen Haaren und demselben hellblauen Kittel, den Jace auch trägt, kommt in den Raum, einen Rollator vor sich herschiebend.

Jace und ich fahren auseinander.
Jace weniger verlegen als ich.
Ich streiche mir eine Strähne, deren Feuchtigkeit noch an meine Tränen erinnert, aus dem Gesicht und grüße den Mann verlegen.

"Fred, wie kannst du mir das antun?", scherzt Jace und wirft mir einen schnellen, entschuldigenden Blick zu.
Fred ist mit dem Rücken zu uns gedreht und arbeitet sich zu seinem Bett am anderen Ende des Raumes vor.

Jaces Zimmergenosse heißt also Fred.
Ich kann meine Augen nicht lange auf dem alten Mann lassen, schaue zurück zu Jace.
Er sieht so ... zufrieden aus. Auf seinem Gesicht hat sich ein breites Grinsen ausgebreitet, als er dem gebrechlichen Mann dabei zusieht, wie er auf sein Bett zu schlurft.
Jace wirkt nicht wie jemand, der krank ist.

Ganz im Gegenteil.
Er sieht aus wie das pure Leben.
Ich weiß nicht, was es ist, aber es fühlt sich so an, als ob etwas in meinem Brustkorb brechen würde.
Denn es ist eine Lüge. Jace Brighton ist nicht mehr das pure Leben.

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Song: Julia - Lauv

I have no time, sorry, ah, bye! <3

Eure Kommentare werden morgen beantwortet! Ich verstecke mich nicht vor ihnen, ich habe nur wirklich no time, ah :)

All my Love,
Lisa xoxo

almost Hate [ᴬ ᴸᵒᵛᵉˢᵗᵒʳʸ]✔Where stories live. Discover now