o98. Wieder jemanden verlieren

851 82 5
                                    

»Doch, ich muss mich entschuldigen...«, erwiderte Warrin und seine Stimme verlor an Kraft, »...ich hätte dir alles sagen müssen. Ich war ein Feigling.«

Er sollte sich nicht die Schuld für etwas geben, wofür er keine Schuld hatte. Ich verstand es. Aber ich wollte ihn lebend haben. Er konnte nicht vor meinen Augen sterben. Alles, aber bloß nicht sterben. Wenn er fort wäre, würde ein Teil von mir mit ihm gehen. Ich könnte nie wieder lächeln. Ich wäre nie wieder in der Lage ein anständiges Leben zu führen. Ich würde ihn so unsterblich vermissen, dass es mich umbringen würde. Und so wie ich ihn da vor mir liegen sah, brachte es mich in der Tat fast um.

»Du Monster«, schrie ich Reva an und hasste sie. So sehr wie noch nie jemanden auf diesem Planeten. Hadrian und Dr. Gifford hatten ebenfalls Furchtbares getan, aber mir Warrin zu nehmen, war das Schlimmste.

Reva lächelte. »Ich habe doch gesagt, ich komme mit meinem Plan durch.«

Mein Brustkorb erzitterte bei ihren Worten. Sie war so voller Bosheit. So viel Bosheit hatte ich noch nie gesehen. Ich erbebte bis in die letzte Faser meines Körpers und hatte das Gefühl alles wurde so viel kälter, als Warrins Augenlider zuckten.

»NEIN!«, schrie ich, »NEIN! NEIN! NEIN!« Die Verzweiflung war so groß, dass ein unheimlicher Sturm aus Eis einzog. Innerhalb von Sekunden wehte mir mein Haar um die Ohren. Flocken schwebten durch die Lagerhalle und hüllten sie weiß. In rasendem Tempo nahm die Temperatur ab.

Und als Warrins Augen sich endgültig schlossen, konnte ich nicht mehr aufhören zu schreien. Ich schrie und spürte, wie ein Sturm aus Eis und Kälte um mich wehte. Der Tod würde nun auch mich holen. Warrin hätte mich nicht retten dürfen. Er war umsonst gestorben. Denn ich konnte nicht ohne ihn leben. Mein Herz konnte und wollte nicht. Der Schmerz würde mich auffressen und für immer in Eis verwandeln. 

Dennoch erhob ich mich. Bevor ich starb, wollte ich das Rave für das, was sie getan hatte, bezahlte. Ich wollte, dass sie nie wieder in der Lage wäre, ein Menschenleben zu beenden.

Mit geweiteten Augen starrte sie die Schneeflocken an. Obwohl ich nur im Raum stand und mich bis in den Grund meiner Seele weinte, entwickelte das gefährliche Eis ein Eigenleben. Es wollte Revas Beine umschlingen, sich an ihr hochziehen.

Sie wehrte sich, aber dafür bewegte sich nur noch mehr Eis in ihre Richtung. Sie wollte mich zu fassen kriegen, aber jeder einzelne Schritt wurde langsamer.

Ich blickte auf Warrin hinab und konnte den Schmerz nicht mehr in Worte fassen. In mir und hier draußen tobte ein Sturm aus Gefühlen. Meine Gefühle, die alles zu verschlingen drohten. Ich hatte sie längst nicht mehr unter Kontrolle. Gefühle hatte ein Mensch nie unter Kontrolle. Wenn man verletzt wurde, drohten sie einen zu ersticken, sie schnürten einem die Kehle zu, sie brachten einen um. Der Schmerz war so tief, dass ich nicht mehr wusste, wie ich ihn jemals wieder heilen sollte. Nein, er war so groß, dass ich wusste, dass ich ihn nicht mehr heilen konnte.

Warrin war tot. Ein Mensch, mit dem ich so viel durchgestanden hatte. Zwei Jahre. Zwei Jahre voller Erlebnisse. Ich erinnerte mich zu gut an dem Tag, an dem er mich absichtlich den Kaffee auf meine Jacke geschüttet hatte, um mich zu testen. Ich erinnerte mich daran, wie er mich zu einem Eis überredet hatte, um mich zu entlarven. Wie er mein Geheimnis herausgefunden hatte, aber mich aufgenommen hat. Mich nicht ausgelacht hat, sondern genommen hat, wie ich war. Ich erinnerte mich daran, wie er mir den Nachthimmel und seine Fähigkeiten gezeigt hatte, als ich meinen Vater verloren hatte. Ich erinnerte mich an unsere unzähligen Streitereien, aber die Tatsache, dass wir uns trotz dessen immer gefunden hatten, um das Böse zu bekämpfen. Ich erinnerte mich an so viel, das ich nicht verlieren wollte. Warrin war neben meinem Vater der bedeutungsvollste Mensch gewesen, den ich je hatte. Ich liebte ihn und nun war er fort.

Alles in mir zitterte nur vor Eiseskälte. Sie umwob alles und jeden in dieser Halle. Caitlyn blickte mich erschrocken an und doch blieb das Eis von ihr fern, als wisse es, dass sie nicht die Schuldige war.

Den größten Schrecken erlitt Reva. Alles stellte sich gegen sie. Sie wollte sich winden und wenden, aber das Eis suchte sich den Weg zu ihr und wollte sie verschlucken. Es legte sich um ihre Beine, ihre Arme.

Entsetzt schrie sie auf, als sie ihre Füße nicht mehr bewegen konnte. Eine Eisschicht hüllte sie ein, fraß sich den Weg nach oben. Das Eis schlang sich vollends um sie, bis ihr Schrei verklang und eine Skulptur aus Eis zurückblieb.

Reva war zu Eis gefroren und teilte dasselbe Schicksal wie Simon. Und doch ließ der Sturm aus Eis nicht nach.

Ich wandte mich um und bewegte mich auf die Maschine zu. Sie zu zerstören war mein einziger Gedanke. Sie zu zerstören, bevor das Eis mich selbst auffraß. Das war das Letzte, was ich tun konnte. Ich spürte, wie meine Kräfte an mir zerrten. Ich wurde mit jedem Schritt schwächer, aber ich kämpfte mich weiter. Ich kämpfte mich weiter, weil ich nicht wollte, dass noch mehr Menschen starben. Warrin war genug Qual gewesen. Ich wollte nicht, dass Menschen genauso wie ich litten.

Ich blickte auf Thane herab, der noch immer am Boden saß und blutete. Auf seinem Gesicht Verachtung, Hass und Schmerz. Sein Kiefer zuckte immer wieder und ich sah, dass es ihn rasend machte, dass Warrin gestorben war, bevor er uns sagen konnte, wie es zu seinen Fähigkeiten gekommen war. Dort, wo er saß, hatte das Eis keine Wirkung. Es wollte sich auch gegen ihn wenden, aber seine Wärme ließ es nicht zu.

Ich wünschte mir, es würde auch ihn treffen. Aber ich hatte keine Zeit, um an Rache zu denken. Ich starrte auf die Reihe der Edelsteine. Dann packte ich zu. Ich umschloss den Diamanten mit meinen zitternden Fingern. Ich wollte ihn rausziehen, aber er wehrte sich.

Ich biss die Zähne zusammen. Ich hatte nicht mehr viel Zeit. Ich musste mich beeilen. Ich wollte nicht, dass er alles vernichtete. Ich wollte nichts von alle dem.

Ich brachte meine letzte Kraft auf. Ich zog und zerrte, aber er wollte nicht rauskommen. Ein verzweifeltes Wimmern verließ meine Kehle. Ich durfte jetzt nicht verlieren. Nicht nach allem, was passiert war. Obwohl das Eis mich zu verschlucken drohte, zwang ich mich weiter am Edelstein zu zerren. Ich zwang mich so lange, bis meine Finger taub wurden und ich sie kaum bewegen konnte.

Mit geweiteten Augen starrte ich sie an und wurde mir bewusst, dass mein Herz so gebrochen war, dass mir nur noch wenige Sekunden blieben. Ich wusste nicht, was ich für ein Wesen von Mensch war, aber eins war mir deutlicher denn je: Ein gebrochenes Herz bedeutete den Tod. Menschen wie Warrin, Thane und ich waren auf dieser Erde, um andere Menschen zu beschützen.

Aber in dem ganzen Chaos musste man auch auf sich selbst Acht geben. Denn wir konnten, obwohl unsere Fähigkeiten außergewöhnlich waren, schlicht und ergreifend an Trauer und Verzweiflung sterben. So war es meiner Mutter widerfahren und so widerfuhr es nun auch mir. Aber was war, wenn ich nicht sterben wollte?

Blazing HeartWhere stories live. Discover now