o89. Vielleicht schon zu spät?

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Der Weg von meinem Zimmer durch das Krankenhaus war ein Albtraum. Jeder Schritt über das kalte Laminat ließ mich erschaudern, die weißen Wände schienen immer näher zu rücken. Fest umklammerte ich Warrins Hand, als ein Arzt uns auf dem Flur begegnete.

Ich würde für immer Angst vor Krankenhäusern und Ärzten haben, schoss es mir durch den Kopf. Und das alles war Dr. Giffords Schuld. Aber dieser konnte mir nichts mehr anhaben. Er war fort. Es gab niemanden, der mich aufschneiden wollte.

Das glaubte ich erst so richtig, als der Arzt Warrin und mir nur zunickte und dann in der nächsten Tür verschwand. Der Knoten in meinem Magen verließ mich jedoch erst, als wir aus dem Gebäude traten und ich zum ersten Mal nach zwei Wochen die Welt wieder von draußen sah. Fast hatte ich vergessen, wie sich das anfühlte. Die Luft, die sich ohne Probleme einatmen ließ. Der Himmel. Ich streckte die Hände in die Luft gen Himmel und holte tief Luft. Freiheit...

Als Warrin mich zu seinem Wagen führte, hätte ich bereits skeptisch sein müssen, was eine Sache anging. Ich stieg neben ihn auf den Beifahrersitz und musterte ihn von der Seite. Mein Blick wanderte zu seinem Bauch. Ob die Wunde bereits verheilt war? Ob er wieder fliegen konnte?

Es musste so sein. Thane hatte gesagt, dass dieses Organ immer wieder nachwuchs. Auch wenn ich mich fragte, wie er zu dieser Annahme gekommen war, war ich mir nicht so sicher. Warrin war nicht so wie Thane und ich. Er war anders.

Ich dachte an die Abmachung von mir und Thane zurück. Wir hatten beabsichtigt zu fliehen, Reva aufzuhalten und dann hinter das Geheimnis von Warrins Andersartigkeit zu kommen. Doch nun war Thane nicht da und ich wusste nicht, was ich denken sollte. Er hatte mir den Vortritt gelassen. Mich gehen lassen. Doch was nun mit ihm war, war mir ein Rätsel.

Warrin sagte, die Polizei hätte unten bis auf die Ärzte und Leichen niemanden gefunden. Keinen Thane. Ob er geflohen war? Ob er sich an sein Wort hielt und uns half Reva aufzuhalten? Irgendetwas sagte mir, ich sollte nicht drauf vertrauen. Er war ein böser Mensch. Ein Verbrecher. Aber eine andere Seite in mir sträubte sich dagegen, das zu glauben. Sie sah den Jungen von der Brücke. Den Kerl, der mir den Vortritt gelassen hatte und sich selbst in der Hölle zurückgelassen hatte.

Ich glaubte nicht daran, dass Thane abgrundtief böse war. Denn wenn es so wäre, würde ich nicht mehr leben. Dann hätte Simons Messer meine Kehle durchschnitten oder Dr. Giffords Kugel in meiner Brust gesteckt.

Warrin startete den Motor und fuhr los. Draußen war es bereits dunkel.  Ich fuhr das Fenster ein wenig herunter und atmete frische, echte Luft ein. Fast hatte ich vergessen, wie das war nicht von Künstlichkeit umgeben zu sein. Der Mond gab in der stillen Nacht ein mysteriöses Funkeln von sich und die Sterne schienen den Weg zu weisen. Still ließ ich den Blick auf den Sternenhimmel gerichtet.

Ich wusste nicht, wieso, aber wenn ich die Sterne sah, dann fühlte ich mich automatisch ruhiger. Es war, als würden sie mein Leid teilen. Es aufnehmen und mir eine kleine Last von den Schultern nehmen. Der Mond erinnerte mich an die Nacht an der Brücke und weckte so viel mehr Erinnerungen als mir lieb waren.

»Thane hat mir das Leben gerettet«, die Worte kamen einfach aus meinem Mund.

Warrin trat in die Vollbremse, als könnte er nicht glauben, was ich soeben gesagt hatte.

Sofort fuhr er wieder weiter. »Wie meinst du das?«, fragte er dann, aber ich konnte ganz genau das Misstrauen in seiner Stimme hören.

Ich legte die Hände auf dem Schoß zusammen. »Ich meine es genauso, wie ich es sage. Da unten hat er mir den Vortritt gelassen. Er hätte sich retten können, aber er hat es nicht getan.«

Ich verstand es immer noch nicht. Und dann seine Worte, er wäre kein guter Mensch.

»Und nun? Er ist nach wie vor ein Verbrecher«, Warrin konnte seine Abscheu Thane gegenüber nicht verbergen, was ich nachvollziehen konnte. Schließlich war er an so vielen Raubüberfällen und Elianas Tod beteiligt gewesen.

Dennoch passten die zwei Rettungen nicht in das Bild. »Ich glaube, er ist nicht so, wie er sich gibt.«

Kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, stieß Warrin ein verächtliches Schnauben aus. »Nein. Er ist böse. Er tut nur, was ihm zu Gute kommt. Eine gute Tat macht ihn nicht zu einem anderen Mensch.« 

Das hatte ich ja auch nicht behauptet. Ich fand sein Verhalten sonderbar. Ich wusste, da musste mehr hinter stecken.

»Er hat versprochen, uns bei Reva zu helfen...«, murmelte ich trotzdem.

Warrin bremste wieder. Ein Schatten lag auf seinem Gesicht. »Ein Versprechen, dass er nicht halten wird.«

Ich senkte den Blick. Wahrscheinlich hatte Warrin Recht und ich machte mir viel zu viele Hoffnungen. Wahrscheinlich wollte ich erneut wieder nur das Gute in den Menschen sehen.

»Verena, wegen ihm und Reva sind wir fast gestorben, wegen ihnen habe ich meine Fähigkeiten verloren, wegen ihnen ist Eliana gestorben. Sie gehören zu den Bösen. Reva und Thane.«

Sofort zuckte mein Blick wieder zu Warrins Gesicht. »Kannst du wieder fliegen?«, es lag so viel Hoffnung in meiner Stimme.

Kurz herrschte Stille. »Ich weiß es nicht«, erwiderte Warrin dann in ruhigem Ton, »Ich habe es nicht mehr ausgetestet.«

Ich sah Ungewissheit in seinen Augen. Mal wieder mehr wurde mir bewusst, dass Warrin nicht perfekt war. Nur, weil er als Held der Stadt bekannt war, war er kein Gott. Er war verletzlich, hatte Gefühle, auch ihn konnte man zum Fall bringen. Er war genauso wie ich einfach nur ein Mensch.

»Wieso?«, fragte ich dennoch.

Warrin ließ sich einige Sekunden Zeit, dann antwortete er: »Ich konnte nicht ohne dich.«

Im ersten Moment war ich überwältigt von den Worten, dann erfüllte mich ein Gefühl des Glücks. Denn Warrin hatte zum ersten Mal, seitdem ich ihn kannte, zugegeben, dass er mich mindestens genauso sehr brauchte wie ich ihn. Und das machte mich wirklich glücklich.

»Ich auch nicht«, erwiderte ich leise.

Er blickte mich länger mit seinen grünen unergründlichen Augen an, dann fuhr er weiter.

Warrin brachte uns aber nicht wie zuerst angenommen zu sich nach Hause, sondern in einen abgelegeren Teil von Chicago. Die Anzahl an Häusern verringerte sich, je weiter er fuhr. Erst spät bemerkte ich, warum. Wir konnten nicht zu ihm nach Hause. Jeder wusste, dass er Mr. Ronnoc war. Die Menschen würden alles daransetzen, um ihn zu treffen. Um herauszufinden, wer der Held war, der zwei Jahre lang über diese Stadt gewacht hatte. Aber es würde auch Menschen geben, die ihn hassten. Vielleicht, weil er nicht jeden retten konnte. Vielleicht, weil sie neidisch waren.

Mr. Ronnoc war wirklich tot. Nun existierte nur noch Warrin und ich wusste nicht, wie ich das beschreiben sollte, aber es war, als wäre mir eine unheimliche Last von den Schultern gefallen. Keine Geheimnisse mehr. Denn meins war jetzt auch an der Oberfläche. Mit meinem Verschwinden hatte Warrin es aufgeklärt.

Maisie und Caitlyn mussten jetzt wissen, warum ich mich so merkwürdig benommen hatte. Sie würden verstehen, warum ich mich nicht gerne berühren ließ, warum ich mich so schwertat, was das Thema Freundschaften anging, warum ich 24 Stunden am Tag fror, warum ich Krankenhäuser und Ärzte so verabscheute, warum ich sie so oft abgewimmelt oder angelogen hatte. Alles musste sich ihnen erschlossen haben, nachdem die Wahrheit ans Licht gekommen war.

Mein Verhalten war nun kein Rätsel mehr. Auch Linden hatte wohl seine Antwort auf die Frage, wie ich das mit der gefrorenen Pfütze hinbekommen hatte... Ich fragte mich, wie sie sich alle im Moment der Offenbarung gefühlt haben mussten. Ob Maisie und Caitlyn erleichtert waren, dass es nie an ihnen lag, warum ich so merkwürdig war? Dass es nicht Thanes Schuld gewesen war? Dass er mich niemals so berührt hatte, wie sie vielleicht gedacht hatten?

Ich hatte so viel Fragen. Sie schwirrten überall in meinem Kopf herum und ließen mir keine Ruhe. Doch von all den Fragen, auf die ich Antworten suchte, war nur eine wirklich von Bedeutung: Hatten Warrin und ich noch genug Zeit, um Reva aufzuhalten oder war es bereits zu spät?

Blazing HeartWhere stories live. Discover now