o57. Ich möchte nicht mehr fallen

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Als ich die Augen aufschlug, war alles um mich herum weiß. So weiß, dass ich mehrere Male blinzeln musste, um mich an die unheimliche Helligkeit zu gewöhnen. Ich wollte den Arm strecken, aber irgendetwas hinderte mich daran. Ich runzelte die Stirn und starrte auf meinen Arm.

Bei dem Anblick der Nadel, die in meiner Haut steckte, zuckte ich zusammen. Panisch schreckte ich nach oben und starrte mit geweiteten Augen das Krankenzimmer an. Es war, als würde mir der Boden unter den Füßen weggerissen werden. Sie hatten es getan. Sie hatten einen Krankenwagen gerufen, schoss es mir durch den Kopf.

Ein bitterer Geschmack erfüllte meinen Mund. Hysterisch riss ich die Kanüle aus meinem Arm und alle anderen Schläuche, die irgendwie in meinen Körper führten. Mein Herz raste. Ich schlug die Decke weg und rutschte aus dem weißen Bett. Als meine nackten Füße den eiskalten Boden berührten, erschauderte ich. Frierend ging ich auf die Tür zu.

Hanson hatte mich verraten. Ich hatte ihm gesagt, dass ich Angst vor Krankenhäusern hatte. Ich hatte es ihm so viele verdammte Male gesagt. Kalte Tränen füllten meine Augen.

Ich wollte die Tür aufmachen, aber sie war verriegelt. Verzweifelt schüttelte ich am Knauf und schrie auf. Der Raum um mich herum schien enger zu werden. Ich wollte raus! Sofort weg von hier! Ich atmete schwer und hielt mir den Kopf. Man hatte mich eingesperrt. Man war hinter mein Geheimnis gekommen. Man bereitete bestimmt schon alles vor, um mich wie einen Frosch zu sezieren.

Ich machte mehrere Schritte zurück, bis ich mich beim Fenster befand. Ich riss den Vorhang zur Seite. Vergittert. Die Fenster waren vergittert. Breite Metallstäbe zogen sich über den Rahmen. Ich drückte die Stirn gegen das Fenster. Ich sah nichts als Berge. Wo war ich hier?

Plötzlich hörte ich ein Klicken. Erschrocken drehte ich mich um und starrte auf die Tür, die langsam aufging.

»Hanson...«, meine Stimme war ganz heiser. Ich blickte in seine blauen Augen, die mir plötzlich so fremd schienen. Als er mit neutraler Miene auf mich zukam, machte ich mich automatisch kleiner. 

»Was hast du getan?«, weinte ich.

Als er mich plötzlich an den Armen packte und hochzog, schrie ich auf. »Was ich getan habe?«, zischte er mich an. In seinen Augen war nichts von der Liebe, mit der er mir einst begegnet war. »Ich habe herausgefunden, dass du kein normaler Mensch bist!«, brachte er unter zusammengebissenen Zähnen hervor, »Du bist ein Alien, ein Monster, ein Etwas. Ein Etwas, mit dem ich nicht zusammen sein möchte.«

Ich konnte nicht fassen, was er da sagte. »Ich dachte, du liebst mich!«, brachte ich unter Tränen hervor.

Hanson schnaubte auf. »Wie könnte ich jemanden wie dich lieben?«, spottete er, »Wach auf, Verena!«

Er schüttelte mich heftiger an den Schultern. »Wach auf!«, schrie er nun lauter, »Wach verdammt nochmal auf!«

Zuckend schreckte ich aus dem Schlaf und blickte entsetzt in Hansons blauen Augen. Mein Atem ging unheimlich unregelmäßig. Mein Herz raste. Meine Lunge fror. Als ich mich umsah, bemerkte ich, dass ich immer noch auf der Couch lag. In meinem Apartment. Caitlyn und Maisie standen in der Tür und warfen mir besorgte Blicke zu.

Dann hörte ich es.

Die Sirenen.

Sie hatten es getan. Sie hatten wirklich einen Krankenwagen gerufen. Mein Albtraum war dabei Realität zu werden.

Hanson schien meinen entsetzten Gesichtsausdruck zu bemerken. Denn er strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr. »Maisie hat ihn gerufen«, flüsterte er, »Wir wollen dir nur helfen. Etwas stimmt nicht mit dir und ich glaube, das weißt du selbst.«

Ich war so erschrocken, dass ich kein Wort herausbringen konnte. Es war, als hätte mir jemand den Boden unter den Füßen weggerissen. Sofort setzte ich mich auf. Mein Kopf dröhnte. Alles um mich herum drehte sich. Der Alarm der Sirenen brannte sich wie Feuer in meinen Schädel.

Hanson wollte beruhigend seine Hand auf meine Schulter legen, aber ich schlug sie weg. Alle sahen mich erschrocken an. Maisie. Caitlyn. Und natürlich Hanson.

Tränen stiegen in meine Augen. Ich wollte doch niemanden verletzen. Ich hatte nur unheimlich Angst!

Sofort riss ich mich auf meine Beine und rannte aus dem Wohnzimmer, raus in das Treppenhaus.

»Verena!«, riefen Maisie und Caitlyn mir nach. Doch ich stürmte die Treppen einfach herunter. Ohne Schuhe. Ohne Jacke.

Ich stieß die Tür nach draußen auf und sah verschwommen das blaue Licht des Krankenwagens. Dann stürmte ich in die nächste Gasse und floh. 

* * *

Eine Träne fiel auf die glatte Steinfläche vor mir. Ein zweite folgte. Und die dritte ließ nicht lange auf sich warten. Heftig weinte ich auf und stützte mich am Geländer ab. Unter mir zischte der tobende Fluss auf. Der Chicago River erstreckte sich in seiner vollen Länge vor mir.

»Es tut mir so leid, Dad«, weinte ich und konnte nicht glauben, dass ich fast dafür gesorgt hatte, dass mein Geheimnis aufflog. Maisie hatte einen Krankenwagen gerufen, der die Wahrheit ans Licht gebracht hätte, wenn ich nicht rechtzeitig aufgewacht wäre.

Ich legte den Kopf auf das Geländer und blickte in die unheimliche Tiefe hinab, die immer noch nach mir rufen zu schien. Ich war nicht so weit gekommen, damit die Wahrheit jetzt ans Licht kam.

Wimmernd kniff ich die Augen zusammen. Ich hatte nicht so viel erlebt, damit ein Kerl jetzt alles zerstörte. Auch wenn ich mich unsterblich in Hanson verliebt hatte, ich konnte ihm mein Geheimnis nicht anvertrauen. Was war, wenn er genauso reagierte wie in meinem Traum? Was war, wenn er mich nicht akzeptierte? Was war, wenn er mich von sich wegstieß?

Ich atmete schwer. Mit zitternder Hand griff ich nach meiner Glücksmünze. Mein blasser Finger strich über die raue Oberfläche. Wieso hieß es »Komm nach Hause«, wenn ich nicht nach Hause wollte? Dort warteten Menschen, denen ich nicht erklären konnte, was mit mir nicht stimmte. Menschen, die niemals verstehen könnten, wie ich mich fühlte. Sie waren da und diese Pistole in meiner Kommode, die darauf wartete, abgefeuert zu werden. Zwei tödliche Kugeln, die sich den Weg in einen Körper suchen wollten, um dann ein Menschenleben kaltblütig zu beenden.

Ich presste meine Hand auf meinen Mund. Ein weiterer Schluchzer entwich meiner Kehle. »Warrin, ich kann das nicht«, weinte ich und konnte mir niemals vorstellen, eine Waffe auf Thane zu richten. Eine Waffe auf einen Menschen zu richten. Dad würde es nicht wollen. Ich wollte es nicht.

Aber viel mehr, war ich dazu nicht in der Lage. Denn in Wahrheit war ich schwach. So schwach, dass es fast schon hoffnungslos war. Mir lag an jedem Menschenleben so viel, dass ich bereit war, mich selbst zu opfern. Ich war bereit alles zu geben, aber ich dachte nicht an mich. Was war mit mir? Warum war ich nicht in der Lage auf mich selbst zu achten? Warum konnte ich mich nicht genauso schätzen wie jeden anderen Menschen? Warum sah ich mich nicht als gleichwertig an? Was stimmte bloß nicht mit mir, dass ich mich jedem anderen Menschen so unterordnete? Wann hatte ich angefangen mich zu einer Sklavin zu machen?

Ich wollte frei sein. Ich wollte, dass diese unheimliche Last von meinen Schultern fiel. Ich wollte fliegen. Aber nicht so wie Warrin. Ich wollte von Wolken umhüllt werden, den Wind auf meinen Wangen spüren und wissen, dass egal, wie hoch ich flog, ich nicht stürzen konnte.

Ich wollte nicht erneut von dieser Brücke fallen. Ich blickte über das Geländer hinweg in die unendliche Tiefe. Ja, ich wollte nie wieder fallen. Aber was musste ich tun, um dieses Ziel zu erreichen?

Blazing HeartNơi câu chuyện tồn tại. Hãy khám phá bây giờ