o37. Das Gefühl, nichts tun zu können

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»Ich weiß es nicht...«, erwiderte ich schließlich, »...wir müssen einfach hoffen, dass er es schafft. So wie immer.« Am liebsten wollte ich noch sagen, dass ich dann hoffentlich nicht an Ort und Stelle war, aber ich konnte nicht. Denn genau darin lag meine Verantwortung. Ich war, was ich war und musste alles tun, was in meiner Macht stand, um zu helfen. Auch wenn ich manchmal wirklich Angst hatte.

Ich konnte mich noch an meine Anfänge als Sidekick erinnern. Ich war so ängstlich gewesen. So schwach. So verletzbar. Ich hatte bei jedem einzelnen Tod, den wir nicht verhindern konnten, nächtelang geweint. Ich hatte mich krank vor Sorge gemacht, versucht jeden einzelnen Menschen im Blick zu behalten, aufzupassen, dass ja keinem etwas passierte. Aber ich war keine Göttin. Ich konnte nicht alles verhindern. Dinge geschahen eben. Nicht einmal Warrin war dazu fähig, alles zu schaffen, was die jüngsten Ereignisse bewiesen. Es war natürlich, dass Menschen starben und genau das musste ich in meinen zwei Jahren als Warrins Helferin eben lernen. Es kostete wirklich viel Zeit und eine Menge Tränen, aber heute schaffte ich es, die Tode nach schon einem Tag wieder auszublenden, mich nicht mehr allzu sehr mitnehmen zu lassen. Es war nicht schön, aber ich musste es tun, sonst zerbrach ich am Ende völlig.

»Weißt du was?«, fragte Hanson plötzlich in die aufgekommene Stille hinein.

Ich blickte ihn an.

»Ein Grund, warum ich mein Praktikum hier machen wollte, war Mr. Ronnoc«, gestand er mir, »Ich finde es so faszinierend, zu was er in der Lage ist.« Hansons blauen Augen strahlten Bewunderung aus.

Es überraschte mich irgendwie nicht, dass Ronnoc einer der Gründe war. Es kamen doch so viele Menschen hier nach Chicago, um sich davon zu überzeugen, dass es wirklich einen Menschen gab, der in der Lage war zu fliegen. Einen Menschen, der keinerlei technischen Schnickschnack brauchte. Einen Menschen, dem das Element der Luft vollkommen gehörte. Warrin hatte so viele Bewunderer, aber wo es Bewunderung gab, existierte auch Neid und Missgunst. Menschen wollten ihn tot sehen, weil sie nicht verstehen konnten, warum nicht sie Teil dieser Gabe geworden waren. Menschen wollten ihn unter dem Messer sehen, um das Geheimnis seiner Fähigkeiten herauszufinden, um zu wissen, warum er so war, wie er war. Deshalb verschwieg Warrin seine Identität. Ja, die Selbstjustiz, die ihn in gewisser Weise zum Feind des Staates machte, war auch ein Grund, aber der Neid, die Gier waren der eigentliche. Menschen waren zu grausamen Dingen fähig, wenn sie Eifersucht empfanden.

»Schön...«, sagte ich zu Hansons Aussage. Mehr kam nicht aus meinem Mund.

»Du scheinst ja davon nicht wirklich begeistert zu sein«, stellte Hanson daraufhin fest.

Ich legte mich wieder hin. »Mir ist schlecht...«, erwiderte ich nur, um über alles, aber nicht Warrin oder gestrige Nacht sprechen zu müssen.

* * *

Am nächsten Morgen ging es mir zum Glück wieder besser und ich konnte wieder aufatmen. Wenn es eins auf der Welt gab, was ich wirklich wertschätzte, dann war das meine Gesundheit. Ich war für jeden Tag, an dem es mir gut ging, unheimlich dankbar.

Nachdem ich Hanson gestern gesagt hatte, dass mir schlecht war und ich schlafen wollte, hatte er sich verabschiedet und war gegangen. Ich hatte mich wirklich sehr über seine Gesellschaft gefreut, auch wenn es vielleicht nicht so herüberkam.

Gerade war ich auf dem Weg in Warrins Anwaltskanzlei. Gemeldet hatte er sich nämlich immer noch nicht. Ich machte mir große Sorgen.

Als die Kanzlei in Sicht war, erblickte ich Elianna, die vor der Tür stand und wartete.

Ich runzelte die Stirn und ging die letzten Meter auf sie zu. »Was machst du denn hier draußen?«, fragte ich das rothaarige Mädchen irritiert.

Nervös zupfte sie an ihrer Jacke herum. »Die Tür ist zu...«, murmelte sie und sah mir dabei zu, wie ich vergeblich versuchte sie aufzudrücken. Sie war tatsächlich abgeschlossen. Durch die Glasscheibe konnte ich sehen, dass keins der Lichter angeknipst war.

»Verdammt...«, brachte ich unsicher hervor. Spätestens jetzt machte ich mir ernsthaft Sorgen um Warrin.

Ich drehte mich zu Elianna. »Ich schätze, du hast heute frei...«, gab ich zögernd von mir, »...geh nach Hause. Ich erkundige mich nach Mr. Chalmers, ja?«

Eliannas blauen Augen leuchteten irritiert auf. »Okay...«, erwiderte sie und ging langsam. »Tschüss...«, hörte ich sie am Ende noch ganz leise sagen, dann war sie weg.

Ich wandte mich wieder der Tür zu und kramte meinen Schlüssel heraus. Natürlich besaß ich einen, aber mit Elianna im Pack konnte ich ja schlecht in die geheime Zentrale spazieren.

Hastig betrat ich das Gebäude und schloss die Tür wieder ab. Dann holte ich einen Zettel und schrieb geschlossen drauf. Mit einem Stück Tesafilm klebte ich das Papier an die Tür. Irgendwie musste man ja deutlich machen, dass Warrin offensichtlich nicht da war. Obwohl er da sein sollte!

Ich legte meine Tasche ab und ging in den Keller, wo ich den vierstelligen Code für die verriegelte Tür eingab. Innerlich hoffte ich, dass Warrin in Wahrheit doch war da und sich nur einen neuen Plan überlegte, wie er Thane und Reva überlisten konnte. Gott, wie ich das hoffte!

Doch als ich die Tür machte und im Dunkeln dastand, verließen mich alle Hoffnungen. Mit langsamen Schritten ging ich auf den runden Glastisch zu und stützte meine Hände an der Kante ab. Das durfte doch nicht wahr sein! Wo war Warrin?! 

* * *

Auf dem Weg zu Warrin nach Hause hatte ich ihm zehntausend Nachrichten hinterlassen, ihn mehrmals angerufen, aber ich hatte noch immer keinerlei Lebenszeichen von ihm. In meinem Kopf malte ich mir die schlimmsten Szenarien aus. Was war, wenn die Wunde, die Reva ihm verpasst hatte, aufgegangen war? Was war, wenn Warrin verblutet war?

Mit jedem Schritt, den ich in die Richtung seines Hauses ging, wurde mir mulmiger zu Mute.

Als ich schließlich vor seiner Haustür stand, zitterte ich am ganzen Leib. Ich klingelte mehrmals an, aber die Tür wurde nicht geöffnet.

»Warrin!«, fing ich an zurufen, »Mach auf!«

Nach zehn Minuten voller verzweifelter Rufe und Anklingeln gab ich es auf. Er war nicht zu Hause. Vielleicht war er ja, nachdem er mich heute Morgen nach Hause gebracht hatte, woanders hingeflogen? Vielleicht machte er gerade eine Einzelmission? Oder vielleicht war er so verletzt, dass er auf halben Wege vom Himmel gefallen war und jetzt tot in einem Graben lag?

Ich lehnte mich an die Tür und weitete die Augen. Alles war möglich. Warrin war ein Superheld. Verdammt nochmal alles war möglich! Genau diese Erkenntnis beunruhigte mich.

Ich verließ das Grundstück seiner Villa mit langsamen Schritten und wusste nicht, was ich tun sollte. Wenn Warrin ein normaler Mensch wäre, hätte ich jetzt die Polizei gerufen und ihn als vermisst gemeldet. Aber Warrin war kein normaler Mensch. Aufgeschmissen machte ich mich auf den Weg zu einem Ort, wo ich hoffentlich einen Rat bekam, der mich beruhigte.

Zwanzig Minuten später fand ich mich in der Kirche bei den Kerzen wieder. Dieses Mal hatte ich nicht nur eine für Mom und Dad angezündet, sondern auch eine für die Hoffnung und das Vertrauen in Warrin. Ich musste hoffen, dass er nichts Dummes tat und auf sich und seine Gesundheit achtete. Gleichzeitig musste ich ihm vertrauen.

Ich setzte mich in die letzte Reihe, als der Gottesdienst begann und Pfarrer Larry aus der Bibel vorlas. Ich wollte ihm und den Worten Gottes wirklich zuhören, aber ich konnte nicht. Immer wieder schweiften meine Gedanken ab. In meinem Kopf drehte es sich nur noch um einen Menschen.

Warrin.

Das Problem war, dass ich erst wieder Ruhe geben konnte, wenn ich wusste, wo er war. Bis dahin würde ich mir unheimliche Sorgen machen, mich selbst kränken und ewig im Kreis herumlaufen. Und genau dieses Gefühl hasste ich.

Blazing HeartWo Geschichten leben. Entdecke jetzt