o62. Dieselben nachtdunklen Augen

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Urplötzlich schien sich die Welt um 180 Grad zu drehen. Mich überkam ein Gefühl des Schwindels. Sofort hielt ich mich an der Kommode fest. Thane? Es war Thane, der mir damals das Leben gerettet hat? 

Ich starrte ihn an und wollte das Gesicht des Jungens, der vor Jahren meinen Selbstmord verhindert hatte, nicht sehen, aber nun sah ich nichts Anderes mehr. Er war gewachsen. Nicht mehr klein und dünn, sondern groß und stark. Viel markantere Gesichtszüge. Der Ring an der linken Augenbraue. Alles war anders. Ich hätte ihn niemals wiedererkannt, wenn die Münze mir nicht aus der Hand gefallen wäre. Aber eine Sache war nach fünf Jahren immer noch dieselbe: Seine Augen. Sie glichen noch immer dem Sternenhimmel einer finsteren Nacht.

»Was ist passiert?«, fragte ich atemlos, »Was ist passiert, dass du nicht mehr so bist wie früher?«

Er hatte mir vor Jahren das Leben gerettet. Immer hatte ich mir gewünscht, genau den Jungen wiederzutreffen, um mich bei ihm zu bedanken. Aber nun stand er vor mir und ich war noch nie so enttäuscht wie in diesem Moment.

Fünf Jahre lang hatte ich gehofft, meinen Schutzengel wieder zu treffen und jetzt stellte sich heraus, dass Thane es war. Ich verstand die Welt nicht mehr. Was war passiert, dass er sich zu so einem furchtbaren Menschen entwickelt hatte? Wieso war er nicht mehr so wie früher? Wo war all das Gute hin?

Thane schnaubte auf. »Was passiert ist?«, fragte er in eiskaltem Ton, »Gar nichts. Ich hatte es einfach satt, der Gute zu sein. Das war's.« Er schmiss die Münze auf den Boden, wo sie klirrend unter dem Regal verschwand.

Ich machte einen Schritt auf ihn zu. »Nein!«, widersprach ich, »Kein Mensch ist plötzlich böse! Was ist passiert?« Ich stand nun direkt vor Thane und erwartete eine Antwort.

Doch er schüttelte den Kopf. »Du bist verrückt«, stellte er nur fest.

Ich ballte die Hände zu Fäusten. »Ich bin nicht verrückt!«, schrie ich ihn an, »Sag mir sofort, was passiert ist! Mein ganzes scheiß Leben habe ich gehofft, meinen Retter wiederzutreffen und jetzt kommt heraus, dass du es bist! Wenn du mir nicht sofort sagst, was passiert ist, schreie ich! So laut, dass es dir das Trommelfeld zerreißt.«

Thane zog die Augenbrauen zusammen. »Wow«, sagte er unbeeindruckt, »Das macht mir ja so Angst.«

Meine Finger glitten wie automatisch zu der Schublade hinter mir und zogen die Pistole aus ihrem Versteck. Ehe ich mich versah, hatte ich sie auf Thane gerichtet. »Sag mir sofort, was passiert ist!«, schrie ich in schrillem Ton und spürte, wie sich meine Augen mit brennenden Tränen füllten. Ich dachte immer, dass das der glücklichste Moment in meinem Leben sein würde. Wenn ich vor dem Menschen stand, der mein Leben gerettet hatte. Aber es war einer der Traurigsten. Ich konnte nicht in Worte fassen, wie enttäuscht ich war.

Thane hob die Augenbraue. »Du wirst nicht schießen.«

Ich stieß einen Frustschrei aus. Denn er hatte Recht. Ich würde es nicht tun. Ich konnte nicht.

»Geh!«, fuhr ich Thane an, »Verschwinde!«

Meine Sicht verschwamm. Ich wollte, dass er verschwand und nie wiederkam. Denn je länger ich in seine Augen blickte, desto verzweifelter wurde ich. Von dem Jungen, von dem ich fünf Jahre meines Lebens geträumt hatte, war nämlich nichts übrig. Es war als hätte er ein Stück meines Herzens, meiner Erinnerungen genommen und niedergetrampelt.

Thane machte einige Schritte zurück, da ich die Waffe nicht sinken ließ. »Weißt du was?«, gab er dann in bitterem Ton von sich, »Ich wünschte mir, ich hätte dich damals sterben lassen.«

Ich erstarrte. Seine Worte drangen sich vollkommen gegen mich und warfen mich beinahe um.

Ich sah Thane mit geweiteten Augen dabei zu, wie er die Tür öffnete. »Komm nach Hause?«, schnaubte er, »Wohl eher: Fahr in die Hölle!« 

Er ging durch die Tür, verschwand einfach. Ich stand auf der Stelle und war nicht in der Lage mich zu bewegen. Die Pistole glitt aus meiner Hand und rutschte unter die Couch. Ich blinzelte. Tränen der Verzweiflung füllten meine Augen. Fahr in die Hölle? Das war alles, was er zu sagen hatte? Das waren die Worte des Jungen, der mir einst das Leben gerettet hatte?

Ich sank auf die Knie. Obwohl hier nicht geschossen wurde, hatte ich das Gefühl, dass Thane mit seinen Worten eine Kugel in mein Herz gefeuert hatte. Plötzlich fiel mir das Atmen schwer, Schmerzen erfüllten meinen Brustkorb und ich wusste nicht, mit diesen Qualen umzugehen.

»Verena!«, hörte ich eine vertraute Stimme sagen. Verbittert hob ich den Kopf und blickte in Hansons blauen Augen. Er stand im Türrahmen. Besorgnis war ihm ins Gesicht geschrieben. Von der Wut von eben war nichts mehr zu sehen.

Ich zitterte am ganzen Leib, als er auf mich zukam. War das jetzt immer so? Thane brachte mich zum Weinen und Hanson war derjenige, der versuchte mein zerbrochenes Herz wieder zusammenzubringen? Er hatte ja gar keine Ahnung, was hier vor sich ging und ich wäre bestimmt nie in der Lage es ihm zu erklären. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich wusste doch nicht einmal, wie ich letzte Woche erklären sollte! Wie konnte er nach all diesem Durcheinander noch etwas mit mir zu tun haben wollen? Mein Brustkorb bebte.

Ich presste die Lippen zusammen und konnte immer noch nicht glauben, dass Thane mein Retter gewesen war. Das Arschloch, das auf der bösen Seite stand und mich entführen wollte.

Ich spürte Hansons Hand auf meinem Rücken. Sofort ließ ich mich von ihm in den Arm nehmen. Laut weinte ich gegen seine Brust und war unheimlich dankbar, dass er trotz allem immer noch für mich da war.

»Er ist weg...«, flüsterte er und strich mit über den Rücken. Trotz dieser Tatsache zitterte ich so sehr, dass ich meinen Körper nicht mehr unter Kontrolle hatte. Jede Faser bebte und stand unter Schock. 

Wenn Hanson bloß wüsste, dass ich Thane früher oder später wiedertreffen würde. Er und Reva trieben ihr Unwesen. Wenn Warrin und ich sie aufhalten wollten, dann gab es keinen Weg um sie herum. Aber ich war mir sicher, dass ich Thane nicht mehr in die Augen blicken könnte. Nicht nach dem, was soeben ans Licht gekommen war. Ich wollte nie wieder in seine nachtdunklen Augen blicken.

Blazing HeartWo Geschichten leben. Entdecke jetzt