o35. Ein eiskalter und bitterer Tod

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Als ich am nächsten Morgen aufwachte, fand ich mich nicht mehr in Warrins Wohnung vor, sondern in meinem eigenen Bett in meinem Apartment.

Irritiert rieb ich mir die Augen und richtete mich auf. Für einen Moment war ich im Glauben, dass gestern Nacht nur ein Traum gewesen ist, dass die Auktion noch gar nicht stattgefunden hatte, dass ich niemals jemanden umgebracht hatte und dass der Diamant nicht im Meer verschwunden war - Doch dann sah ich mein Kleid. Es hing ordentlich an der Heizung, die Ärmel glattgestrichen.

Ich schlüpfte langsam in meine Hausschuhe und ging darauf zu. Der Stoff war durch die Heizungsluft ganz warm und fühlte sich überraschend weich an. Ich hielt es hoch und wendete es. Es schien wirklich noch in Ordnung zu sein.

Ich ließ es wieder sinken und blickte zu Boden. Das brachte mir aber nicht viel. Die Visitenkarte war nämlich weg. Ich musste sie im Meer verloren haben.

Betrübt hing ich das mit Pailletten bestickte Kleid in meinen Kleiderschrank und fragte mich, wann Warrin mich nach Hause gebracht hatte. War das etwa mitten in der Nacht geschehen oder heute früh, als er sich auf den Weg in die Kanzlei gemacht hatte? Es war fast 14 Uhr. Ich hatte wohl wirklich sehr lange und tief geschlafen.

Ich schritt in die Küche und machte mir einen Tee. Dann setzte ich mich vor den Fernseher, schaltete ihn jedoch nicht an. Denn plötzlich war in mir dieses Gefühl der Übelkeit. Kopfschmerzen bahnten sich an und irgendwie drehte sich alles ein wenig. Ich wollte einen Schluck von meinem Tee nehmen, aber meine Hand zitterte so sehr, dass ich beinahe etwas verschüttete.

Ich stellte die Tasse auf den Tisch und lehnte den Kopf nach hinten. Was war plötzlich los?

Es musste an dem Sturz ins Meer liegen. Ich war viel zu lange pitschnass herumgelaufen. Was war, wenn ich krank wurde? Das letzte Mal war vor acht Monaten und es war echt eine Qual gewesen. Eine Qual, weil ich zu keinem Arzt konnte.

Und jedes Mal war da auch diese Höllenangst, die mich dabei zerfraß. Was war, wenn ich genauso endete wie meine Mutter? Was war, wenn ich einfach erfror? 

Vor nicht allzu langer Zeit

 »Wie meinst du das?«, fragte ich meinen Vater erschrocken, »Sie ist erfroren?«

Mein Vater presste die Lippen zusammen, sein Unterkiefer zitterte. Erneut fuhr er sich durchs Gesicht und versuchte völlig aufgelöst die Tränen aus seinem Gesicht zu radieren. »Ich weiß auch nicht, auf einmal wurde es immer kälter im Zimmer...«, hauchte er, »...die Wehen setzten ein. Wir konnten nicht ins Krankenhaus. Deine Mutter fing an zu weinen und sagte unter Tränen, dass ich gut auf dich aufpassen solle, dass sie mich liebt, dass sie dich liebt...« Mein Vater zitterte am ganzen Leib, Tränen rannten nun in Strömen über seine Wangen, aber er machte keinerlei Anstalten mehr sie wegzuwischen.

»Sie wusste, dass sie nicht mehr lange zu leben hat...«, flüsterte mein Vater, »...sie wusste ganz genau, dass sie deine Geburt nicht überleben würde. Und der Gedanke, dass sie dich niemals kennenlernen würde, kränkte sie so sehr, dass sich alles um sie herum in Eis verwandelte. Gerade noch konnte ich dich, Neugeborenes, in die Hände nehmen, da war ihr ganzer Körper auch schon zu Eis gefroren.«

Ich war unfähig etwas zu sagen und starrte einen Moment meinen Dad einfach nur in die geröteten Augen. Meine Mutter war erfroren? Mein ganzes Leben lang hatte ich angenommen, dass sie weggeschieden war wie ein normaler Mensch und jetzt sagte mein Vater mir, dass sie sterben musste. Dass meine Geburt diese Notwendigkeit herbeigeführt hatte?

»Wieso erzählst du mir das erst jetzt?«, fragte ich verbittert und spürte, wie meine Augen sich mit eiskalten Tränen füllten.

Mein Vater schluchzte auf, sein Brustkorb hob und senkte sich in unregelmäßigen Bewegungen. Ich hatte ihn noch nie so verletzlich gesehen. »Ich konnte nicht...«, brachte er schluchzend hervor, »...ich wusste nicht wie. Ich-« Ihm brach das Wort ab, er war nicht mehr in der Lage zu sprechen.

Ihn so zu sehen, durchfuhr mich mit Schmerzen. Augenblicklich bereute ich, was ich da letzte Woche beinahe getan hatte. Meine Mutter war für mich gestorben und ich hätte mein Leben beinahe weggeschmissen. Ich hätte meinem Vater das Herz, was schon seit Jahren unter dem Verlust seiner großen Liebe litt, erneut gebrochen.

Sofort beugte ich mich vor und schloss meinen Vater fest in meine Arme. Ich spürte seinen rasenden Herzschlag an meiner Brust. »Du musst es mir nicht erklären...«, flüsterte ich und spürte seine warmen Tränen an meinem Hals, »...ich verstehe, warum du mir nichts gesagt hast.«

Er hatte doch so viel durchmachen müssen und dann hatte ich es ihm auch noch so schwer gemacht. Mit meinen Tränen, mit meinem Beschweren über meine Andersartigkeit, mit meinen Todeswünschen.

Das Schluchzen meines Vaters wurde leiser. Ich drückte ihn fester an mich. Eine Weile saßen wir zusammen und weinten uns aus. Dann löste ich mich von meinem Vater. Und in dem Moment, als ich sah, wie sehr ihn die ganze Sache mitgenommen hatte, schwor ich, dass ich niemals wieder versuchen würde, mein Leben vorzeitig zu beenden. Ich schwor es mir selbst und ich schwor es Gott. Meine Eltern hatten so viel für mich geopfert und ich schien das erst jetzt, nach fünfzehn Jahren, zu realisieren. 

Die Erinnerungen verschwammen. Ich fand mich nicht mehr bei meinem Vater, sondern auf dem Sofa in meinem eigenen Apartment sitzen.

Zusammengekrampft versuchte die aufkommende Übelkeit zu ignorieren. Oh, ich verfluchte Thane dafür, dass ich ins Meer gefallen war!

Ich wollte aufstehen und mir einen neuen Tee machen oder das Wärmekissen in die Mikrowelle stecken, aber ich konnte nicht. Mein Kopf dröhnte, mein Bauch wurde von einem merkwürdigen Ziehen erfüllt, meine Gelenke schmerzten. War das eine Grippe, wenn man das so nennen konnte?

Plötzlich klopfte es ganz laut und gleich mehrmals an meiner Haustür. Es klang fast nach Warrin, aber dann hörte ich Hanson mehrmals meinen Namen sagen. »Verena!«, rief er und klopfte so laut, dass meine Kopfschmerzen nur heftiger wurden.

Nur widerwillig zwang ich mich vom Sofa aufzustehen und zur Tür zu laufen. Als ich sie aufmachte, blickte ich in Hansons vertrauten blauen Augen. Seine blonden Haare standen störrisch in alle Richtungen ab. Er sah ganz fertig aus. Ganz zu schweigen von den dunklen Augenringen.

Einen Moment starrte er mich einfach nur an und konnte dem Gesichtsausdruck zufolge nicht glauben, dass ich wirklich vor ihm stand. Dann kam er den letzten Schritt auf mich zu und schloss mich urplötzlich in den Arm.

Überrumpelt erwiderte ich seine Umarmung. Für was war das denn?

»Gott, ich dachte schon, dir wäre gestern auf dem Schiff etwas passiert...«, murmelte Hanson auf einmal, »...du warst plötzlich wie im Erdboden verschluckt! Ich dachte, du wärst ins Meer gefallen.«

Oh, das war ich ja auch. Dass er sich Sorgen gemacht hatte, tat mir natürlich Leid. Aber daran konnte ich gerade nicht denken. Das Einzige, woran ich denken konnte, waren Hansons Arme um meinen Körper lagen und meine wackeligen Knie. Wenn er mich jetzt losließ, dann fiel ich, da war ich mir zu hundert Prozent sicher.

»Oder dieser Mann!«, sagte Hanson plötzlich, »Ich dachte, er hätte dich geschnappt!«

Oh, und geschnappt wurde ich auch. Ist gestern eigentlich überhaupt etwas richtig gelaufen?!

Hanson löste sich von mir, hielt mich jedoch weiterhin am Arm fest. »Wo warst du?«, fragte er mich und sah beinahe verzweifelt aus.

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich war überrascht, dass er sich anscheinend so große Sorgen um mich gemacht haben musste. »I-ich...«, stotterte ich und fühlte mich in seinen blauen Augen verloren, »...h-habe dich gesucht, aber nicht gefunden.«

Ich hasste mich dafür, dass ich Hanson direkt in die Augen log. Und ich war mir ziemlich sicher, dass er mich viel mehr hassen würde, sollte er das alles herausfinden.

Blazing HeartWhere stories live. Discover now