o49. Wenn Wahrheit und Lüge falsch sind

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Als ich am nächsten Morgen die Augen aufschlug, fand ich mich in meinem Bett vor. Ich nahm noch den salzigen Geschmack von Tränen wahr und wusste, dass ich gestern einfach in Hanson Armen eingeschlafen sein musste.

Ich neigte den Kopf zur Seite und erblickte auf meinem Nachttisch einen kleinen Zettel. Mit zitternden Händen griff ich danach. 

»Die Beerdigung geht bis 14 Uhr.

Ich bin abends wieder zurück.

- Hanson«

Ich presste die Lippen zusammen. Heute war Sonntag. Hanson war nach Virginia zu seinen Eltern und Verwandten fahren, weil Miss Stone dort begraben wurde.

Ich atmete tief ein und aus und versuchte mich zu beherrschen, nicht erneut in Tränen auszubrechen. Ich hoffe, dass ich ihm mit meinem Gefühlsausbruch gestern nicht noch mehr zur Last gefallen war. 

* * *

»Lieber Gott, ich habe einen Menschen belogen, der mir unheimlich viel bedeutet. Ich will ihm die Wahrheit sagen, aber ich kann nicht. Ich fürchte mich vor seiner Reaktion. Ich habe Angst, dass er mich verstößt...«, meine Stimme wurde leiser, »...wenn ich in seine eisblauen Augen sehe, dann sehne ich mich nach der Wahrheit. Aber die Wahrheit würde meinen Untergang bedeuten. Sag mir, was ich tun soll, wenn sowohl die Wahrheit als auch das Lügen die falsche Wahl sind.«

Mit zusammengelegten Händen starrte ich auf das Gemälde von Jesus, das neben dem Mosaikfenster in der Kirche hing. Ich war so verzweifelt, dass ich Gott um Rat gebeten hatte. Einen Gott, von dem ich nicht einmal wusste, ob er wirklich existierte. Aber Mom und Dad waren gläubig gewesen und ich wusste nicht, an wen ich mich sonst wenden sollte.

»Verena?«, fragte eine vertraute Stimme.

Ich blickte auf und sah voller Wehmut in Pfarrer Larrys Augen. Der Gottesdienst war längst vorbei. »Alles in Ordnung? Du siehst nicht gut aus.«

Ich presste verbittert die Lippen zusammen und raufte mir das Haar. »Nichts ist in Ordnung«, gab ich mit bebender Stimme von mir, »Ich bin hier und frage Gott nach Hilfe, obwohl ich so ein schlechter Mensch bin.«

Pfarrer Larrys Gesichtsausdruck war besorgt. »Das stimmt doch gar nicht«, erwiderte er in sanftem Ton, »Du bist kein schlechter Mensch. Und wenn du dich wirklich so fühlen solltest, dann zeigst du doch Reue. Gott verzeiht reuevollen Menschen. Aber ich glaube zuerst solltest du dir selbst verzeihen.«

Der Pfarrer ließ sich auf den Platz in der Reihe vor mir nieder. »Verena, jeder macht Fehler und ich bin mir sicher, dass deine nicht aus böser Absicht geschehen sind. Ich kenne dich. Du bist ein guter Mensch.«

Vielleicht war ich das. Trotzdem belog ich meine Mitmenschen. »Wie kann ich dann dieses Gefühl in meiner Brust loswerden, wenn ich lügen muss?«, fragte ich, »Vielleicht bin ich gut, aber immer noch eine Lügnerin.«

Pfarrer Larry seufzte auf. »Manchmal«, sagte er, »da gibt es keinen anderen Weg als zu lügen. Ich sage nicht, dass es in Ordnung ist, aber wenn du es tust, um deine Mitmenschen zu beschützen, dann ist es okay. Wenn du es tust und es niemanden verletzt oder benachteiligt, dann ist es okay. Wenn du es tust, um ein Geheimnis zu wahren, das womöglich niemand verstehen würde, dann ist es auch okay. Verena, es gibt Dinge auf der Welt, die manche Menschen nicht verstehen und wenn du mit der Wahrheit warten willst, dann ist das in Ordnung. Aber das Wichtigste ist, dass du dir treu bleibst. Dass du ehrlich zu dir selbst bist. Und dass du auf dein Herz hörst.«

Manchmal hatte ich das Gefühl, dass Pfarrer Larry in mich hineinsehen konnte. Vielleicht konnte er das wirklich. Denn seine Worte trafen immer ins Schwarze.

Blazing HeartWhere stories live. Discover now