o59. Wenn die Hoffnung schwindet

1.4K 120 11
                                    

Als ich mich auf den Weg nach Hause machte, bereute ich es einfach davongelaufen zu sein. Maisie und Caitlyn hielten mich jetzt bestimmt für verrückt. Ich schätzte, jetzt war es vorbei mit unserer Freundschaft. Es hatte überraschend lange gehalten. Sobald ich vor ihnen stehen und sie eine Erklärung haben wollen würden, könnte ich ihnen keine Antwort liefern.

An Hanson wollte ich gar nicht erst denken. Mein Herz schmerzte allein beim Gedanken ihn anzulügen. Er würde nicht mehr mit mir zusammen sein wollen, wenn ich jetzt wieder eine Geschichte erzählte, die unmöglich wahr sein könnte. Er würde mich wirklich wegstoßen. Aber mir war lieber, dass er es tat, weil ich ihn belog und nicht, weil ich anders war. Die Angst, er könnte mich nicht akzeptieren, war nun größer denn je. Der Albtraum nagte immer noch an mir und ließ mich so schnell nicht mehr los.

Ich betrat das leere Treppenhaus und stieg langsam die Stufen hoch. Innerlich bebte alles in mir. Ich wollte nicht, dass Hanson aus seinem Apartment kam und mich fragte, warum ich weggelaufen war. Ich wollte, dass er gar keine Fragen stellte. Ich wollte sein enttäuschtes Gesicht nicht sehen, wenn ich ihn anlog. Ich wollte nichts von all dem.

Ich spürte, wie meine Augen glasig wurden. Ich hätte mich niemals in ihn verlieben dürfen. Ich hätte ihn einfach ignorieren müssen. Ich hätte mich mit dem Gedanken, für immer allein zu sein, abfinden müssen. Doch jetzt war es zu spät. Ich hatte mich Hals über Kopf in Hanson verliebt und wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte.

Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht, die mir stumm über die Wangen liefen. Mit einem Stechen in der Brust öffnete ich die Tür zu meinem Apartment. Meine Augen trafen auf die von Hanson, als ich das Licht anknipste.

Er saß auf meiner Couch, hatte die Arme auf die Beine gestützt und schien die ganze Zeit auf mich gewartet zu haben. Seine eisblauen Augen waren voller Enttäuschung, aber auch Angst und Verwirrung hatten einen großen Platz.

Ein Schluchzen erfüllte meine Kehle. Es traf mich, dass er tatsächlich die ganze Zeit auf mich gewartet hatte. Und dass ich ihn jetzt wieder anlügen musste.

Hanson erhob sich von der Couch. »Wo warst du, Verena?«, fragte er mit gequälter Stimme, »Wir haben uns unfassbare Sorgen gemacht!«

Das glaubte ich ihm sofort. »I-ich konnte«, Tränen rannten meine Wangen herunter, »Ich-« Ich verstummte. Alles in mir sträubte sich dagegen Hanson erneut anzulügen. Aber die Wahrheit sagen konnte ich auch nicht. Also schwieg ich.

Hanson kam auf mich zu und wollte mich in den Arm nehmen, aber ich stieß ihn weg. Ich wollte nicht, dass er mich tröstete. Ich hatte das nicht verdient. Denn bis jetzt hatte ich nichts Anderes getan als gelogen.

»Was ist los?«, fragte Hanson mit verletzter Miene, »Ich will dir doch nur helfen, Verena.«

Das Schlimmste war, dass es genauso war. Er wollte helfen. Aber wie sollte er bei einer Sache helfen, die über dem Menschlichen war? Eine Sache, die nicht einmal Warrin und ich vollkommen verstanden? Hanson war ein unglaublich guter Mensch, aber er konnte mir nicht helfen. Niemand konnte das.

»Bitte geh«, brachte ich gepresst hervor und wollte es nicht einmal wagen, ihm erneut eine Lüge zu erzählen.

Hanson machte einen Schritt auf mich zu. Ich spürte seine Hand auf meiner Wange. »Verena...«, sagte er leise.

Ich kniff die Augen zusammen und wollte nicht daran denken, wie gut sich seine sanften Berührungen auf meiner Hand anfühlten. »Bitte...«, wiederholte ich nur.

Im nächsten Moment war seine Hand weg. Eine unheimliche Kälte durchzog meinen Körper.

Hanson wollte nicht gehen. Ich sah es in seinen Augen, aber dann zwang er sich. Er trat durch die Tür und drehte sich noch einmal um. »Du kannst mir alles sagen«, war das Letzte, das ich von ihm hörte, bevor ich die Tür schloss.

Schluchzend hielt ich die Klinke umklammert und versuchte seine verletzten blauen Augen aus dem Kopf zu kriegen. Aber sein Blick wollte mich nicht loslassen. Ich fühlte mich nicht besser, sondern viel, viel schlechter. 

* * *

Mein Schlaf war furchtbar. Schuldgefühle plagten mich. Ein schlechtes Gewissen ließ mir keine Ruhe. Und die ständige Angst war auch noch da. Ich fühlte mich machtlos, wollte meinem Körper am liebsten entfliehen.

Caitlyn und Maisie hatten mir unzählige Nachrichten geschrieben, aber ich hatte sie alle gelöscht. Nicht einmal durchgelesen. Ich durfte mit den beiden nichts mehr zu tun haben. Vielleicht verging der Schmerz dann irgendwann. Wie war ich bloß auf die verrückte Idee gekommen, es überhaupt mit ihnen zu versuchen? Ich hätte den Kunstkurs niemals besuchen dürfen.

Verbittert warf ich mein Skizzenbuch in die Mülltonne und meinen Stoff direkt hinterher. Das machte doch alles gar keinen Sinn. Ich konnte keine Designerin werden. Denn Designen hieß mit Menschen Kontakt haben, aber genau dazu war ich ja offensichtlich nicht in der Lage. Ich musste mich damit abfinden, dass Warrin der einzige Mensch in meinem Leben bleiben würde, der mich halbwegs verstand. Er war doch sonst auch allein. Er hatte es viel früher eingesehen als ich. Aber ich war so naiv, so dumm gewesen.

Ich hatte keine Ahnung, wie Mom das bei Dad geschafft hatte, aber ich war nicht in der Lage, Hanson mein Geheimnis anzuvertrauen. Ich war nicht so wie Mom. Ich war schwach, feige und zerbrechlich. Ich war sicherlich eine Enttäuschung. Für meinen Vater und meine Mutter.

Ich riss den Stoff von meiner Plastikpuppe und stopfte ihn in den Abfalleimer. Ich hätte Susanne Clancys Visitenkarte gar nicht erst annehmen dürfen. Meine Aufgabe bestand allein darin, die Menschheit zu beschützen. Wie war ich auf die Idee gekommen, Kleider zu nähen? Warrin hatte Recht. Das war eine absolute Zeitverschwendung.

Als meine Finger die Schere berührten, liefen mir wieder eiskalte Tränen über das Gesicht. Schluchzend zerschnitt ich jedes meiner designten Stücke in seine Einzelteile, damit ich bloß nicht auf die Idee kam, sie wieder aus der Mülltonne zu fischen.

Auch Linden hatte Recht gehabt. Ich hätte mir niemals irgendwelche Hoffnungen machen dürfen. Ich war sowieso nicht gut genug. Wer wollte schon das Oberteil einer verzweifelten Frau tragen, die nichts als Selbstzweifel zeichneten? Es war einfach nur lächerlich. Wie konnte ich auch nur einen Moment annehmen, dass eines Tages mehr aus mir werden würde als ein dummer Sidekick?

Blazing HeartWhere stories live. Discover now