o58. Eine Nacht auf der Brücke

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»Eine schöne Nacht, nicht wahr?«, fragte eine heisere Stimme hinter mir.

Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht und nahm den alten Mann in Blick, der sich mir näherte. Seine grauschwarzen Haare standen in alle Richtungen ab, seine hellen Augen waren getrübt, die Kleidung heruntergekommen und alt. »Für Nächte wie diese«, flüsterte er und legte die Hände auf dem Steingeländer ab, »Lebe ich.«

Ich hob den Blick und starrte in den Sternenhimmel. Erst jetzt fiel mir auf, wie klar die Sterne heute Nacht funkelten. Der sichelförmige Mond stand hoch am Himmel und spiegelte sich in der Gischt des Flusses. Irgendwie hatte es schon fast etwas Magisches. Er hatte Recht. Warum sah ich das erst jetzt?

Mein Blick wanderte zum alten Mann. Irgendetwas an ihm kam mir bekannt vor. Während mein Kopf versuchte herauszufinden, was, zitterten meine Hände ununterbrochen. Genauso wie mein Brustkorb, der sich noch immer in unregelmäßigen Bewegungen hob und senkte.

»Und hat er dich gut behandelt?«, fragte der Mann plötzlich, den Blick noch immer auf den Fluss gerichtet.

Ich zog die Augenbrauen zusammen. »Wer?«, fragte ich, wurde mir gleichzeitig aber bewusst, wen er meinte. Sofort erkannte ich ihn wieder. Das war der Mann vom Museum. Als ich in jener Nacht auf den Juwelendieb gewartet hatte. Damals hatte ich noch nicht gewusst, dass es in Wahrheit zwei Diebe waren. Ich hatte noch nicht gewusst, dass es Thane und Reva waren, die so viel Unfug stifteten. Der Mann hatte mir in jener Nacht gesagt, dass es nicht wert sei auf einen Mann zu warten, der mich nachts allein in der Dunkelheit warten ließ. Ich hatte ihn in dem Glauben gelassen, dass es so war und nicht anders.

»Ich habe dich eindeutig früher wiedererkannt«, er hatte ein leichtes Lächeln auf den Lippen, während er diese Worte aussprach, »Aber das ist unfair. Ich kenne jeden in der Stadt. Ich beobachte gerne Menschen und lese in ihnen wie in einem Buch. Allein Mimik und Gestik können sie so viel ausdrücken. Findest du nicht auch?«

Ich wusste nicht so recht, was ich auf diese Frage erwidern sollte. Ich war immer noch vollkommen durcheinander. Unwohl bewegte ich mich auf der Stelle. Meine Füße froren.

Der Mann schien das zu bemerken. Denn er bückte sich und zog sich seine Stiefel von den Füßen. »Hier«, sagte er und wollte mir seine Schuhe in die Hand drücken.

»N-nein!«, wehrte ich sofort ab, »Das ist wirklich nicht nötig. Sie brauchen sie viel dringender.« Wie konnte ein Mensch, der selbst kaum etwas hatte, trotzdem alles geben wollen?

Ich sah dem Mann dabei zu, wie er sie auf den Boden abstellte. »Ich laufe lieber barfuß herum und spüre die Erde unter meinen Füßen. Du kannst mich übrigens Jeffrey nennen«, sagte er und machte keine Anstalten die Schuhe wieder anzuziehen.

Erst war ich unentschlossen, dann schlüpfte ich in sie hinein. Denn ich empfand es als unhöflichen es nicht zu tun. Auch wenn ich ein wirklich schlechtes Gewissen hatte, weil er es doch viel nötiger hatte.

»Verena...«, murmelte ich und wußte nicht so Recht, wie ich mich bedanken sollte.

Der Mann sah mich an, sein Blick wanderte zu meinen Händen. »Willst du sie nicht werfen?«, fragte Jeffrey plötzlich und meinte damit die Münze in meinen Fingern.

Ich zog die Augenbrauen zusammen. »W-wieso sollte ich das tun?«

Jeffrey hatte ein leichtes Lächeln auf den Lippen: »Damit dein Wunsch in Erfüllung geht, musst du sie in einen Brunnen werfen.«

Ich senkte den Blick und schüttelte den Kopf. »Wenn es so einfach wäre...«, murmelte ich, »...die Münze bedeutet mir viel zu viel, als dass ich sie wegwerfen könnte.«

Der Mann lächelte warm. »Hat jemand Besonderes sie dir gegeben?«

Ich nickte. In gewisser Weise schon. Andererseits hingen so viele unschöne Erinnerungen an ihr. Der Versuch mein Leben zu beenden an erster Stelle.

»Wenn ich die Münze in den Händen halte, denke ich einerseits dran, wie schön ist es zu leben, aber auf der anderen Seite verbinde ich so viel Schlechtes mit ihr«, sprach ich meine Gedanken aus. Jeffrey schien einen vertrauten Eindruck zu machen. Ich nahm keinerlei böse Aura wahr.

»Vielleicht ist es an der Zeit loszulassen?«, sagte der Mann plötzlich, »Auch, wenn jemand Besonderes sie dir gegeben hat, vielleicht ist sie in Wahrheit eine Last?«

Ich presste die Lippen zusammen. Eine Last? So hatte ich das noch nie gesehen. Viel mehr hatte ich sie als Glücksbringer betitelt und mich immer an ihr festgehalten.

»Vielleicht ist es an der Zeit loszulassen?«, murmelte ich leise und blickte auf das weite Meer hinaus. Vielleicht hatte er Recht und ich war nur noch nicht bereit meine Vergangenheit loszulassen? 

»Ich kann nicht«, sagte ich mit heiserer Stimme.

Jeffrey nickte verständnisvoll. »Ich habe ja nicht gesagt, dass du sofort loslassen oder überhaupt auf mich hören musst. Ich bin doch nur ein Mann von der Straße.«

Er seufzte auf. »Ich habe mir schon oft vorgestellt, wie es wäre, wenn ich mich fallen lassen würde«, er strich über das matte Steingeländer der Brücke. »Ob es mich von meinen Sorgen befreien würde? Ob ich in einem Leben nach dem Tod glücklicher wäre? Aber meine Vorstellungen umsetzen?«, er schüttelte den Kopf, »Das konnte ich nie. Denn es gibt Dinge, die mich hier halten. Die Menschen. Ihre Art. Ihr Auftreten. Jeder erzählt eine Geschichte, die ich versuche nachzuverfolgen.«

Er blickte mich an und hatte etwas in seinen Augen, das ich nicht so ganz deuten konnte. »Du hast auch eine Geschichte, von der ich einige Blätter lesen konnte«, sagte er plötzlich, »Du bist ein Nachtmensch. Jemand, der gerne allein ist.« Damit hatte er Recht. Denn es war kaum zu übersehen.

»Außerdem«, fuhr der Mann fort, »scheinst du etwas mit dieser Brücke zu verbinden. Du bist nicht grundlos hierhergekommen. Du sehnst dich nach einer Sache, die niemand dir geben kann.« Auch das stimmte. Ich wollte die Wahrheit, aber die konnte nur ich ans Licht bringen. Niemand nahm mir diese Aufgabe ab.

»Und du hast Angst. So sehr, dass du ohne Schuhe dein Haus verlassen hast«, sagte Jeffrey zuletzt. Ich zitterte leicht, als er diese Worte aussprach. Ja, ich war ein Feigling. Das hatte er wirklich gut erfasst.

»Ich hatte einen Bruder, der dir in gewisser Weise ähnelte«, sagte er plötzlich und stützte sich am Geländer ab, »Er war so ängstlich, dass er sich selbst das Leben nahm. Zwei Schüsse und ich sah ihn nie wieder.«

Ein Schaudern durchzuckte mich. Ich dachte an die Waffe, die noch immer zu Hause in meiner Schublade darauf wartete abgefeuert zu werden. »Ich hoffe, dass du nicht so bist wie er...«, murmelte Jeffrey und sah mich mit seinen graublauen Augen an, »Du hast dein ganzes Leben noch vor dir. Was auch immer passiert ist, ich bitte dich, geh nach Hause. Nachts kommen Menschen auf dumme Ideen. Deine Zeit mag schwierig sein, aber es wird besser werden. Das verspreche ich. Du siehst nicht aus, als wärst du ein schlechter Mensch. Das Gute findet immer seinen Weg zurück.«

Wenn das wirklich so war, warum ging es mir von Tag zu Tag schlechter? Warum wurde die Sache mit Hanson nicht einfacher und das Problem mit Thane und Reva nur größer? Warum änderte sich nichts? Ich glaubte ja aus tiefstem Herzen an das Gute, aber wann fand es den Weg zu mir zurück? Musste erst weitere Menschen sterben oder war ich für immer dafür verdammt unglücklich zu sein?

Ich presste die Lippen zusammen und nickte. »Sie haben Recht«, sagte ich zu Jeffrey, nur um ihn nicht zu kränken, »Das Gute findet immer seinen Weg zurück.«

Fast immer. Denn in meinem Fall leider nicht. 

Blazing HeartTahanan ng mga kuwento. Tumuklas ngayon