o79. Doppelte Gefangenschaft

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Als ich wieder aufwachte, lag ich wieder im Bett in der Zelle. Doch dieses Mal waren mir die Arme nicht gebunden. Dennoch fühlte es sich so an, als wären sie das. Ich konnte mich nicht regen. Eis tanzte vor meinem inneren Auge. Schneeflocken rieselten auf mich herab. Eisiger Wind wehte um meine Ohren.

Automatisch schlossen sich meine Augenlider wieder. Ich spürte nichts. Rein gar nichts. Aber egal, wie viel Blut mir abgenommen wurde und wie lange das her war, ich konnte mich nicht mehr bewegen. Es war als wäre ich vollkommen eingehüllt von unfassbarer Kälte. Als fiele ich langsam, aber sicher in einen Schlaf, der für immer währen würde. Zitternde Klauen des Winters wanden sich um jede Faser meines Körpers und wollten mich endgültig aus dem Leben reißen.

Ich sehnte mich nicht mal mehr nach Wärme, sondern gab mich vollkommen meinem Schicksal hin. Sollte der ewige Winter doch über mich einbrechen und mich genauso wie meine Mutter verzehren. Ich gab auf.

Endgültig.

Plötzlich drang eine leise Stimme in meinem Kopf.

Es war kaum ein Flüstern, das sich um mich legte. Aber im Gegensatz zu der Kälte war die Stimme ganz warm. »Verena...«, hörte ich eine helle Stimme, die sanfter als alles, was ich kannte, sagen.

»Verena...«, hauchte sie mir erneut zu. Und obwohl meine Augen geschlossen waren, erhellte sich plötzlich alles in einem strahlenden Licht und ich sah den schwachen Umriss einer Frau.

Wunderschön geschwungene Locken lagen auf ihren Schultern. Die Figur war unscheinbar und zierlich. Aber ihr Herz leuchtete heller, als alles, was ich jemals gesehen hatte. Es strahlte so viel Wärme aus, dass ich danach greifen wollte. Die Hitze zu fassen bekommen wollte.

Aber ich kam nicht dran, stattdessen blickte ich in ein Paar dunkler Augen, das mir doch so vertraut vorkam.

Ein gutmütiges Lächeln lag auf den Lippen der Frau. »Was machst du hier?«, wollte sie wissen und ich hatte das Gefühl sie kam näher, obwohl sie auf ein und derselben Stelle verharrte. Ihre Wärme war überall. »Es ist doch noch viel zu früh, um zu sterben, mein Kind.«

»Mom?«, fragte ich, aber aus meinem Mund klang kein Ton.

Ihre Augen leuchteten auf. »Ja, mein Schatz?«

Die Wärme stieg an. Ich hatte das Gefühl im Licht der Sonne zu baden. War das die Erlösung?

Meine Mutter bewegte sich auf mich zu. »Ich weiß, es ist wunderschön«, ihre Miene war glücklich, aber dennoch traurig, »Trotzdem will ich nicht, dass du soll schnell aufgibst.«

Ich spürte, einen warmen Windstoß, der sanft über meine Wange strich. »Du bist doch so viel stärker als das. Willst du wirklich schon aufgeben?«

Augenblicklich wurde mein Herz wieder schwer. Eiskalte Tränen der Verzweiflung füllten meine Augen. »Es ist so schwer«, brachte ich gepresst hervor, »Diese Kälte... Ich kann einfach nicht mehr.«

Meine Mutter senkte den Blick, dennoch war da ein Lächeln. »Ich weiß«, erwiderte meine Mutter, »Aber sie ist nun mal ein Bestandteil von dir. Würdest du dir bei einem gebrochenen Bein, auch sofort den Tod wünschen?«

Ich starrte sie an. »Natürlich nicht.«

Meine Mutter stand nun direkt vor mir, wagte es jedoch nicht mich zu berühren. »Also. Wieso fängst du dann nicht endlich an, die Kälte in dir zu akzeptieren? Sie genauso wie jede Faser deines Körpers zu anzunehmen. Sie gehört zu dir. Genauso wie deine Beine, deine Arme, deine Augen. Nur weil sie dich von anderen Menschen unterscheidet, ist es doch kein Grund sie wegzuwerfen. Ein Mensch kann erst dann glücklich sein, wenn er sich selbst liebt. Wenn er sich selbst akzeptiert. Mein Schatz, wieso siehst du nicht endlich ein, dass du etwas ganz Besonderes bist?«

Ich schwieg. Sie hatte Recht. Ein Mensch konnte erst dann glücklich sein, wenn er sich selbst akzeptierte, annahm, liebte. Aber ich war dazu nicht in der Lage. Ich wusste nicht einmal mehr, was Liebe war.

»Ich kann mich nicht selbst lieben, wenn niemand anderes in der Lage dazu ist.«

Meine Mutter kniete sich zu mir herunter. Die Wärme brannte nun auf meiner Haut, aber sie war angenehm, wunderschön. »Dein Vater hat dich mehr als alles andere auf der Welt geliebt. Und ich habe dich geliebt. So sehr, dass ich für dich starb. Du kannst nicht behaupten, niemand würde dich lieben.

Liebe ist groß. Wunderbar. Sie ist so ein starkes Gefühl, das zu so großen Taten fähig ist, wenn man sich auf sie einlässt. Liebe ist das, was uns Menschen Hoffnung gibt. Liebe ist das, was Menschen am Leben erhält.

Weine nicht, weil Menschen dich nicht gut genug behandelt haben. Weine nicht, weil du denkst, niemand würde dich lieben. Weine nicht, weil du verraten wurdest. Lächle, Verena. Lächle, weil du weißt, dass deine Eltern dich wie keinen anderen Menschen auf dieser Welt geliebt haben. Lächle, weil du weißt, was Liebe ist. Lächle, weil du so sehr an die Liebe, an das Gute geglaubt hast wie kein anderer Mensch.«

Ihre warmen Worte schmiegten sich um jede Faser meines Körpers. Angenehme Wärme bedeckte meine Haut. Ich wollte meine Mutter für ihre wundervollen Worte bedanken, aber ihre Silhouette verblasste.

Und als ich die Augen aufschlug, war ich wieder in der Zelle und alles schien nur ein wunderschöner Traum gewesen zu sein.

* * *

»Wie müssen von hier weg!«, sagte ich, nachdem Thane von den Wachmännern zurückgebracht wurde und an die gegenüberliegende Wand angekettet wurde.

Seit meinem Traum war vielleicht eine Stunde vergangen. Aber die Worte meiner Mutter hatten sich so echt angefühlt. Ich hatte ihre Wärme gefühlt. Überall. Sie war voller Liebe. Ich wollte auch an Liebe glauben. Sie war mir so viel lieber als Hoffnungslosigkeit und Trauer.

Ich hatte versucht, an die schönen Momente in meinem Leben zu denken. Daran, wie gerne Dad und ich in die Kirche gegangen waren. Wie oft wir außerhalb der Stadt in den atemberaubenden Nationalpark gegangen waren, um die Natur zu bewundern. Wie oft wir doch darüber gelacht hatten, dass kein Tier sich von mir streicheln ließ. Daran, wie wir Luftballons in den Himmel hatten steigen lassen. Daran, wie Dad mich als Superheldin bezeichnet hatte, aber dennoch keine Superheldenfilme mochte...

In meiner Trauer hatte ich all die schönen Momente in meinem Leben vergessen. Ich hatte mich so verhalten, als hätte ich niemals gewusst, was Liebe war. Ich war unsterblich in Hanson verliebt gewesen und auch wenn er nicht einmal existierte, hatte ich mich wirklich in ihn verliebt. Aber daran war nichts falsch. Denn Mom hatte Recht: Liebe war etwas Wundervolles. Das warme Gefühl, das man in seiner Brust verspürte. Das Prickeln auf der Haut. Das strahlende Lächeln. Ja, Hadrian hatte mich zutiefst verletzt, aber wenn ich jetzt aufgab, dann hatte er gewonnen. Und ich wollte nicht, dass das Böse gewann. Ich wollte, dass das Gute gewann. Dass die Liebe siegte. 

Thane hob die Augenbrauen. »Ach, jetzt auf einmal?«, fragte er in abschätzigen Ton, doch ich sah, dass er schwächelte. Ein dunkler Schatten lag über seinen Augen, die zeigten, wie wenig er geschlafen hatten, wie sehr Dr. Gifford und Hadrian an unseren Nerven zerrten. Bis jetzt war er bestimmt auch schon zwei Mal bei ihnen gewesen. Die Wahrheit musste er kennen. Hadrian hatte sie ihm bestimmt unter die Nase gerieben. Wahrscheinlich hatte er zum ersten Mal gespürt, wie das war, wenn jemand kam, der so viel mächtiger als er war.

»Ja, jetzt auf einmal«, erwiderte ich und setzte mich auf. Obwohl die Kälte immer noch da war und jede Faser meines Körpers verzerren wollte, versuchte ich mich zusammenzureißen. Denn wenn ich mich dieses Mal einfach der Kälte hingab, dann könnte mich niemand retten.

»Wir müssen fliehen«, gab ich entschlossener von mir, »Und wenn das geschafft ist, hilft du mir, Reva aufzuhalten.«

Plötzlich war da dieses amüsierte Funkeln in Thanes Augen. »Ach, du glaubst also, danach würde ich dir helfen?«

Auch wenn ich Thane abgrundtief hasste, musste ich dieses Gefühl des Abschaums verdrängen. Wenn ich eine Chance haben wollte, Warrin vor diesem Schicksal hier zu bewahren und gleichzeitig Reva aufzuhalten, dann musste ich mit dem Teufel kooperieren.

Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Mir gefällt diese Idee auch nicht, aber eine andere Wahl haben wir ja nicht.«

Thane schwieg einen Moment, dann neigte er den Kopf zur Seite. »Na, dann schieß los Frostbacke.«

Blazing HeartWhere stories live. Discover now