o95. Eine unerwartete Wendung

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Zum ersten Mal in meinem Leben erschauderte es mich nicht Thane zu sehen. Ja, zum ersten Mal durchfuhr es mich nicht mit einer Gänsehaut. Er lebte und jetzt war er hier, um unserer Vereinbarung nachzukommen. Auch wenn er es vielleicht nur tat, um nicht von uns bei der Polizei ausgeliefert zu werden, ich war unheimlich dankbar, dass er genau jetzt kam.

Maisie machte überfordert einen Schritt nach hinten. »Lauf!«, rief ich.

Ich sah, dass sie es nicht wollte, also rief ich: »Hol die Polizei! Und einen Krankenwagen!« Meine beste Freundin zögerte, dann rannte sie förmlich um ihr Leben.

Ich kämpfte mich auf die Beine und blickte zu Warrin, der sichtlich überrascht davon zu sein schien, dass Thane wirklich hier aufgekreuzt war. Aber ich sah ganz deutlich das Misstrauen in seinem Blick. Dennoch spielte das jetzt keine Rolle mehr. Wir waren drei gegen eins. Reva hatte keine Chance. Wir waren in der Überzahl.

»Schön, dass du zurück bist, um noch rechtzeitig dabei zu sein«, erwiderte die Hexe und warf Thane einen eindringlichen Blick zu.

Dieser schnaubte auf. »Ich bin hier, um dich zu töten.«

Reva lachte auf. »Sag mir nicht, dass du jetzt auf der Seite der Guten stehst? Wie langweilig.«

Thane kam die Stufen hochgeschritten und hatte die Waffe fest auf Reva gerichtet. »Ich stehe auf keiner Seite«, erwiderte er gefühlslos, »Ich will deinen Tod.«

Das glaubte ich ihm aufs Wort. Thane sah alles andere als zufrieden aus. Hass lag überall auf seinem Gesicht. So viel Hass und Abneigung. An seinem Arm trug er einen Verband. Die Wunde war noch frisch. Ich war mir sicher, dass sie ihn in Wahrheit eine große Last war. Ich meine, er wurde angeschossen.

»Aber zuerst«, sagte er plötzlich. Sein Blick wanderte zum Helden, der sich immer noch in der Luft befand. »Was ist dein Geheimnis?!«, knurrte Thane ihn plötzlich an, »Sag mir, was dich von uns unterscheidet.« Seine Stimme bebte. Er wollte es wissen. Auf der Stelle.

Warrin zog die Augenbrauen zusammen. »Ich habe kein Geheimnis«, erwiderte er ohne jegliche Spur von Gefühlen.

Thane schnaubte auf. »Kein Geheimnis?!«, fragte er abschätzig, »Lüg mich nicht an!« 

Warrin bewegte sich weiter in unsere Richtung, stets den Blick auf Reva gerichtet. »Ich lüge nicht«, erwiderte er und sah dann mich an. An seinem distanzierten Blick merkte ich, dass er Thane kein Stück vertraute. Ich vertraute ihm ja auch nicht, aber wir hatten einen Deal gehabt und er war unmöglich nur hierhergekommen, um Warrins Geheimnis auf die Spur zu kommen.

Plötzlich wurde ich ruckartig zurückgezogen. Erschrocken stöhnte ich auf, als Thane mich zu sich zog und die Waffe in meinen Nacken presste. »Sag mir sofort die Wahrheit«, schrie er jetzt so wütend, dass ich am ganzen Leib erzitterte. »Sag die Wahrheit oder ich bringe sie um. Selbst wenn ich dabei draufgehe!«

Scharf zog ich die Luft ein, als ich merkte, dass er das absolut ernst meinte und das kein mieser Trick war, um jemanden täuschen. 

»Thane, lass mich los! Wir finden schon heraus, was hinter Warrins Geheimnis steckt! Aber nicht jetzt!« Verdammt nochmal nicht jetzt. Wie konnte er nur auf die Idee kommen, diesen ungünstigen Moment zu wählen?

»Was ist mit unserer Abmachung?«, meine Stimme war ganz heiser. Fest kniff ich die Augen zusammen, als Thane die Waffe fester gegen meine Haut presste.

»Die Abmachung...«, Thanes Stimme war nur ein Flüstern, aber ich nahm jedes Wort leider viel zu genau wahr, »...war euch zu helfen, Reva aufzuhalten. Ich habe nie davon gesprochen, irgendein Leben zu verschonen.«

Das Traurige an der Sache war, dass er Recht hatte. Ich biss mir auf die Lippe. Es lag eigentlich auf der Hand. Thane stand auf keiner Seite. Wenn es nach ihm ginge, könnte jeder Mensch in diesem Raum sterben. Es würde ihn nicht interessieren. Ich hätte auf Warrin hören müssen. Thane war keiner der Guten. Er hatte es mir doch selbst gesagt. Und es so oft bewiesen. Er hatte mir da unten nur den Vortritt gelassen, um mich jetzt als Geißel gegen Warrin zu benutzen.

»Lass Verena aus dem Spiel!«, Warrin konnte seine Wut nicht verbergen, »Ich werde dir sagen, was uns unterscheidet, aber nicht so!«

Ich schnappte nach Luft. Es gab tatsächlich einen Unterschied und Warrin wusste warum? Ich war mir nicht sicher, ob ich deshalb sauer oder erleichtert sein sollte. Die Pistole in meinen Nacken ließ jedoch keins der Gefühle zu. Ich fühlte überall nur Panik. Panik, dass ich als nächstes dran glauben musste. Dass trotz aller Bemühungen das Böse gewann.

»Ich will es aber jetzt hören! Auf der Stelle!«, Thanes Knurren spürte ich in jeder Faser meines Körpers. Ich schluckte schwer, als er die Pistole fester in meinen Nacken drückte. Obwohl ich es nicht sollte, fühlte ich mich verraten. Ich hasste mich dafür, dass ich viel zu schnell das Gute in den Menschen suchte. Ich hasste mich so abgrundtief dafür. Erst dadurch wurde ich immer wieder aufs Neue enttäuscht. Erst dadurch waren alle Probleme entstanden. Erst dadurch war ich in Hadrian und Dr. Giffords Finger geraten. Ja, ich verabscheute mich für diese Eigenschaft an mir selbst. Aber was konnte ich denn dafür? 

War es nicht viel besser automatisch davon auszugehen, dass jeder Menschgut war? Automatisch das Gute zu sehen und die Menschen um einen herum nicht zuverurteilen? Würden wir nicht in einer viel schöneren Welt leben, wenn sichalle Menschen so begegneten? Warum konnte nicht jeder gut sein? Dann wäredieses Problem nie entstanden. Was war Revas Problem mit der Welt, dass sie sofurchtbare Dinge tat? Und warum war Thane das komplette Gegenteil von mir?Warum nutzte er seine Kräfte für das Böse? Was war passiert, dass er so einfurchtbarer Mensch geworden war? 

Warrin senkte sich tiefer in die Luft, aber genau das wollte ich nicht. Reva war mir mit ihren zwei Schwertern ein unfassbarer Dorn im Auge. Allein die Vorstellung, sie könnte ihn von hinten treffen... ich wollte es mir nicht vorstellen. Alles, was hier passierte, war so surreal. Reva war das Böse in Person. Sie erinnerte mich in ihrer Skrupellosigkeit an Simon.

Ich blickte zu Warrin, der einen bedauernden Blick auf dem Gesicht trug. »Ich bin nicht immer so gewesen«, gestand er, Schmerz zuckte über seinem Gesicht auf, unfassbarer Schmerz, der mich nahezu lähmte. Er sprach direkt zu mir. Seine Worte waren an mich gerichtet.

Obwohl ich mich verraten fühlen sollte, tat ich es nicht. Ich hatte unsagbare Angst. Erschaudernde Kälte schnürte mir die Kehle zu, ich wollte nicht, dass Warrin die Wahrheit aussprach. Ich wollte mir nicht ausmalen, was Thane tun könnte, sobald er die Wahrheit wüsste. Ich wollte es mir beim besten Willen nicht vorstellen.

Dass Warrin nicht immer so gewesen sein soll, hätte mich überraschen müssen. Aber mich überraschte heute Nacht nichts mehr. Ich hatte mich daran gewöhnt, dass ich nichts vorraussehen konnte. Ich war in der Falle. In Thanes Fängen.

Warrin senkte sich tiefer in die Luft.

»Hör auf!«, flüsterte ich. Ich wollte nicht, dass er sich wieder auf dem Boden bewegte. Ich wollte, dass er außer Reichweite von Reva blieb. Er sollte dort oben bleiben und verdammt nochmal nicht sterben.

Was auch immer Warrins Geheimnis war, er würde es Thane erzählen. Ich wusste nicht, was in seinem Kopf vorging, aber der Schmerz in seinen grünen Augen war echt. Er würde alles preisgeben. Nur, um mich zu retten. Aber ich wollte nicht gerettet werden. Ich wollte, dass er sich auf die Menschen um uns herum konzentrierte. Die Menschen da draußen, die in Gefahr waren.

Meine Finger wanderten wie automatisch zum Bund meiner Hose und berührten das kühle Metall des Messers, das ich dort befestigt hatte. Auch wenn Thane zu keiner Seite gehörte, er war böse. Und das Böse musste ich bekämpfen. Das war mein Ziel gewesen. Schon immer. Ich konnte keine Ausnahme machen.

Obwohl ich ihm wirklich dankbar dafür war, dass er mein Leben gerettet hatte, konnte ich ihn sein Verhalten nicht durchgehen lassen. Denn in diesem Moment bewies er, dass seine böse Seite seine gute immer überschatten würde.

Ich blickte Warrin in die Augen. Er sah mich immer noch an. Mich und niemanden anderen.

Ich umschloss den Dolch und wollte zustechen, doch dann sagte Warrin etwas, das mich erstarren ließ. »Ich war einst genauso wie Thane.«

Das waren die Worte, die mir das Eis bis in die Haarspitzen trieben. Was?

Blazing HeartWhere stories live. Discover now