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Energisch klopfe ich gegen die Haustür. Mittlerweile ist es drei oder vier Uhr morgens. Aber das ist mir egal. Barfuß und im Schlafanzug stehe ich auf dem Kiesweg. Solange bis meine Knöchel weh tun, haue ich gegen das Holz.

Ein verschlafener Shawn öffnet mir die Tür. Ich komme nicht drumherum, ihn anzustarren. Oberkörperfrei nur in einer grauen Jogginhose bekleidet steht er vor mir. Müde fährt er sich mit beiden Händen durch seine unordentlichen Haare.

"Weißt du wie spät es ist?", grummelt er. "Ich weiß, aber das kann nicht bis Samstag warten", hole ich Luft, "ich habe mir die halbe Nacht meinen Kopf zerbrochen. Es tut mir leid, was ich vorhin zu dir gesagt habe. Du scheinst ein netter Typ zu sein. Anständig und hilfsbereit. Ich sollte in meinem Leben etwas riskieren und dein Angebot annehmen, uns besser kennen zu lernen."

Immer noch müde fährt der Braunhaarige mit seinen Händen mehrfach über seine Wangen. Seine Augen sind gerötet und der Schlaf steht ihm regelrecht ins Gesicht geschrieben. Trotzdem sieht er einfach perfekt aus.

"Was, wenn dieses Angebot gar nicht mehr steht", lacht er abfällig. Meine Hände fangen an zu zittern und ich suche krampfhaft nach Argumenten, um ihn zu überzeugen.

"Sei ein Mann und benimm dich nicht wie ein beleidigtes Kind", ertönt eine tiefe Stimme hinter mir. "Dad?", schlucke ich, während ich mich umdrehe. Tatsächlich steht mein Vater auf dem Kiesweg. Seine Wangen sind eingefallen und die Haare sind viel grauer, als sie es bei meinen Umzug waren.

Ich will ihn umarmen, aber anderseits will ich ihm nicht zeigen, wie sehr ich ihn vermisse.

"Victoria, lebt es sich schön hier? Weit weg von der ganzen Verantwortung? Einfach abgehauen", spricht mein Vater meinen Namen schärfer aus als nötig. "Ich...Ich bin vor nichts weggelaufen", erkläre ich mich mit zitternder Stimme.

"Du sollst deinen alten Herren nicht anlügen", spricht Ava tadelnd. Links neben der Haustür steht meine Mitbewohnerin. Immer wieder packt sie sich in die Haare, die in lauter kleinen Büscheln ausfallen.

"Hör auf, Ava. Hör auf damit!", rufe ich, weil ich es mir nicht weiter ansehen kann, wie immer mehr Haare sich um ihre Füße sammeln.

"Übernimm Verantwortung! Einmal in deinem Leben sollst du Verantwortung übernehmen. Komm wieder zurück nach Carp", redet mein Vater auf mich ein. Mit meinen Händen halte ich meine Ohren zu. Ich will seine Stimme nicht hören.

Nachdem ich meinen Kopf geschüttelt habe, ist mein Dad verschwunden. Seine Worte hängen aber trotzdem noch in der Luft.

"Du musst hier bleiben", bittet mich Ava, die nun mit schwarzen Haaren vor mir steht. "Ich habe nicht vor zu gehen", schließe ich erschöpft meine Augen.

"Victoria?" Shawns Stimme klingt angespannt. Als ich zu ihm Blicke, steht er zitternd dar. Er stützt sich am Türrahmen ab. Seine Hände klammern sich so fest um das Holz, dass die Knöchel weiß werden.

Es braucht eine Ewigkeit bis ich zu ihm gelange. Der Kiesweg wird immer länger und bricht langsam unter meinen Füßen weg.

Mit letzter Kraft lasse ich mich vor den Braunhaarigen niederfallen. Sein Körper bebt und er rutscht langsam am Türrahmen entlang auf den Boden. Überstürzt packe ich an Shawns Stirn. "Was passiert mit dir?", rufe ich immer wieder. Doch aus seinem Mund kommt nur ein Wimmern.

Mit einem Tuch, das plötzlich in meiner Hosentasche ist, versuche ich den Schweiß wegzuwischen, der aus allen Poren tritt. Ich spüre wie Shawns Herz in einem rasenden Tempo schlägt. "Es tut mir leid. Ich habe dich ungerecht behandelt. Verzeih mir bitte, Shawn", flüster ich gegen sein linkes Ohr.

"Komm wieder. Bitte", fleht der Junge. Dann verschwimmt alles um mich herum. In einen endlosen Wirbel von Gedanken gehe ich unter.

Barfuß stehe ich auf dem Kiesweg. Mit aufgeschürften Knöcheln klopfe ich immer und immer wieder gegen die Haustür.

"Was willst du hier?", fragt ein verschlafener Shawn. Ich nehme mir keine Zeit ihn anzuschauen, sondern rede direkt los. "Es tut mir leid, was ich vorhin zu dir gesagt habe."

"Du bist zu spät", lacht er abfällig. Meine Hände zittern und in meinem Kopf pocht es.

"Es ist nie zu spät für eine Entschuldigung", vernehme ich eine männliche Stimme. Als ich mich umdrehe, steht mein Vater auf dem Kiesweg.

Neben ihm steht mein Bruder. Er trägt sein NHL Trikot. Um ihn herum fliegen lauter Dollarscheine. Immer wieder wirft er neues Geld in die Luft.

"Vicky, wie viel Geld brauchst du?", fragt er mich, "ich bezahle dir die Entschuldigung." Fassungslos sehe ich ihn an. "Du kannst nicht alles mit Geld erkaufen!", schreie ich meinen Bruder an.

Mein Vater packt Calvin an seinem Ohrläppchen und zieht ihn aus dem Vorgarten. "Komm zurück nach Carp. Übernimm Verantwortung. Kümmer dich um den Laden", ruft er mir zu, bevor er sich in Luft auflöst.

"Victoria?", hustet Shawn. Dann bricht er zusammen und kauert sich auf dem Fußboden zusammen. Eine riesige Pfütze bildet sich um ihn herum. Dreckiges Meerwasser sickert langsam zwischen die Kieselsteine.

"Was passiert hier, Shawn?", fahre ich gereizt über mein Gesicht. Immer wieder hustet er einen Schwall Wasser aus. Sein Herzklopfen nimmt stetig zu. Meine Hände werden schwitzig.

Erfolglos versuche ich Shawn zu beruhigen, indem ich sein Gesicht in meine Hände nehme. Doch meine Finger zittern selbst zu sehr, um ihm ein Gefühl von Sicherheit zu geben.

"Stoß mich nicht von dir", fleht der Braunhaarige, nachdem er eine neue Ladung Wasser ausgehustet hat. Stirnrunzelnd blicke ich ihn an. Ich wäre doch nicht um ihn besorgt, wenn ich ihn von mir stoßen wollen würde.

Aber dann machen sich meine Arme selbstständig. Mit aller Kraft schubse ich ihn. Meinen Namen rufend fällt er rückwärts ins Schwarze.

Erschrocken schaue ich dabei zu, wie Shawn langsam im offenen Gewässer ertrinkt.

Schweißgebadet wache ich auf und sitze Kerzen gerade in meinem Bett. Mein Herz rast, die Finger zittern und mein Atem geht stoßweise. Warum um Gottes Willen hat sich mein Kopf diesen Traum zusammengereimt?

Nachdem ich in der Küche ein Glas Leitungswasser getrunken habe, lege ich mich wieder ins Bett. Erschöpft schließe ich meine Augen und hoffe noch einige Stunden schlafen zu können.

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Das super coole neue Cover ist übrigens wieder von der tollen MarciliaMcClair entworfen! ❤

Schöne Ferien an die, für die sie heute anfangen!

Meant To Be \\ Shawn MendesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt