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Gestern hatte ich mich den kompletten Tag mit dem Gedanken, meine Eltern anzurufen, herum geschlagen. Tief ein atmend drücke ich schließlich den grünen Hörer. Jetzt gibt es kein zurück mehr.

"De Haan", meldet sich eine weibliche Stimme. "Mom?", frage ich reflexartig nach. Natürlich gibt es in diesem Haushalt keine andere weibliche Person mit diesem Nachnamen.

"Victoria, mein Mäuschen", ruft sie erfreut aus, "was für eine Überraschung, dass du anrufst." Durch die Freude meiner Mutter, fällt eine gewaltige Last von mir ab.

"Du bist mir nicht böse, dass ich mich solange nicht gemeldet habe?", erkundige ich mich unsicher. "Böse? Nein, Mäuschen. Ich verstehe, dass du Zeit gebraucht hast. Und um ehrlich zu sein, hätte ich doch auch schon längst bei dir anrufen können."

Erleichtert lasse ich mich auf meine Bettkante nieder. "Ich wollte dir eigentlich nur ein frohes neues Jahr wünschen. Wie geht es dir?" Abwartend kaue ich auf meinen Nägeln herum. Das hatte ich schon Ewigkeiten nicht mehr gemacht. "Und Dad?", schiebe ich leise hinterher.

"Uns geht es gut. Dein Dad verbringt viel Zeit im Laden. Aber das ist okay. Somit habe ich etwas Zeit für mich. Ich habe wieder angefangen Kleider zu entwerfen", erzählt meine Mutter.

"Das freut mich", lächel ich. Es war schon immer die größte Leidenschaft meiner Mutter Kleidung zu designen. "Was ist mit dir? Geht es dir gut? Hast du dich schön in Pickering eingelebt? Freunde hast du hoffentlich auch schon gefunden", bombardiert sie mich mit Fragen.

"Mom!", bremse ich sie, "bei mir ist alles super. Im Moment kann ich mich echt nicht beschweren." Ich höre wie die Frau am anderen Ende erleichtert aufatmet.

"Kommst du uns bald besuchen?", erkundigt sie sich. Nach einer passenden Antwort suchend blicke ich durch mein Zimmer. Ich möchte sie ungerne vor den Kopf stoßen.

"Mal sehen", murmel ich schließlich. "Also nein, du kommst bei uns nicht vorbei", spricht meine Mom meine eigentlichen Gedanken aus.

"Ich... Es würde mich sehr viel Überwindung kosten. Möchte Dad mich überhaupt zuhause haben?", versuche ich mich zu erklären. "Bestimmt. Du weißt, er ist ein Sturkopf. Aber insgeheim vermisst er seine Tochter. Genauso wie ich."

"Kann ich vielleicht mit ihm kurz sprechen?", presse ich heraus. Diese eine Frage zu stellen, bringt mich beinahe um den Verstand. "Sicher", gibt mir meine Mutter Zuspruch, "er ist gerade im Laden. Aber ich klingel durch."

Damit ist sie aus der Leitung verschwunden. Eine geschlagene viertel Stunde warte ich darauf, dass sich meine Mutter zurück meldet.

"Mäuschen?", erklingt ihre Stimme wieder, "dein Vater scheint unterwegs zu sein oder so. Ich kann ihn jeden Falls nicht erreichen. Tut mir leid, Victoria."

Verbissen nicke ich vor mich hin. Ich weiß, dass sie nicht die Wahrheit sagt. "Kannst du wenigstens ehrlich zu mir sein, Mom?", schnaufe ich, "Dad hat bestimmt abgelehnt mit mir zu sprechen, du hast versucht mit ihm zu diskutieren und deshalb hat das Ganze so lange gedauert."

Durch den Hörer höre ich sie schlucken. "Er meint es nicht so", seufzt meine Mutter. "Natürlich nicht."

Enttäuscht lege ich auf, nachdem ich mich verabschiedet habe. Wie ein Tier im Käfig laufe ich in meinem Zimmer im Kreis. Schlussendlich werfe ich meine Wertsachen in eine Umhängetasche und verlasse die Wohnung.

Zum Glück muss ich heute wieder anfangen zu arbeiten. Einen weiteren Urlaubstag kann ich jetzt nicht gebrauchen.

"Willkommen beim 'Pizza Shack'. Was kann ich Ihnen bringen", ratter ich die Begrüßungssätze hinunter. Eine Frau und scheinbar ihre Tochter blicken von ihren Karten auf.

"Meine Tochter bekommt eine Apfelschorle und ich nehme eine Cola. Bitte ohne Zucker. Um uns für das Essen zu entscheiden, bräuchten wir noch etwas Zeit", lächelt sie mich überheblich an.

Solche Leute als Kunden haben mir heute noch gefehlt. "Natürlich, ich bringe Ihnen gleich die Getränke", bleibe ich trotzdem freundlich.

Gähnend befülle ich zwei Gläser mit den Erfrischungsgetränken. Ich hatte nicht wirklich viel Schlaf diese Nacht abbekommen. Zügig liefer ich die Bestellung an die zwei Frauen aus.

Auf dem Rückweg zur Theke sammel ich noch dreckiges Geschirr vom Nebentisch ein und bringe es in die Küche. Ein genervtes Handzeichen der Frau, macht mich darauf aufmerksam, dass sie nun bereit sind zu bestellen.

"Was darf ich ihnen bringen?", frage ich noch einmal nach. "Wir beide nehmen die Nummer 17 und zusätzlich einmal die Nummer 80", liest die Blondhaarige aus der Speisekarte ab.

Gerade wende ich mich zu gehen, als sie mich zurück ruft. "Junge Dame? Ich hatte eine Cola ohne Zucker bestellt", hebt sie ihr volles Glas hoch.

"Ich weiß", nicke ich. "Das hier ist aber definitiv keine Coca Cola Zero", verzieht die Frau vor mir angewidert ihren Mund.

Tief einatmend bereite ich mich darauf vor eine Diskussion zu beginnen. Doch dann fällt mir ein, dass der Kunde immer König ist. "Tut mir leid", lächel ich entschuldigend, "ich bringe Ihnen sofort eine Neue."

Eigentlich bin ich mir ziemlich sicher, dass ich das richtige Getränk abgefüllt habe. Aber eine kleine Chance, dass ich den falschen Zapfhahn benutzt habe, besteht trotzdem.

Nachdem ich die neue Cola - ohne Zucker - abgeliefert habe, kassiere ich an zwei Tischen, die mir heute zugeordnet sind, ab. Meine Augen gerade so offen haltend räume ich ab und wische über die hölzernen Tischplatten und die roten Bänke. Manche Gästen hatten die Angewohnheit auch die Sitzgelegenheiten zu beflecken.

"Nimmst du mich mit?", joggt Tyren auf mich zu, als ich mein Auto aufschließe. "Klar", nicke ich. Auf der Fahrt reden wir nicht viel, sondern lauschen einfach der Musik im Radio.

Während der Schwarzhaarige in Avas Zimmer verschwindet, schlage ich meinen Weg ins Wohnzimmer ein. Bei einer Folge 'Austin & Ally' schlafe ich viel schneller ein, als wenn ich mir vorher den Kopf über meine Eltern zerbreche. Um heute Abend sicher Pizzen ausliefern zu können, brauche ich unbedingt etwas Schlaf.

Meant To Be \\ Shawn MendesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt