[86]

8.8K 392 100
                                    

März 2020

"Du bist groß geworden", sehe ich Lilly, die mir plötzlich auf dem Schulflur gegenüber steht, erstaunt an. "Du nicht", grinst mich die Siebtklässlerin frech an, bevor sie sich die Hand vor ihren Mund hält. "Tut mir leid", nestelt sie nervös an dem Gurt ihres Rucksackes herum, "es ist nur so, dass mir jetzt nicht mehr viel fehlt, um genauso groß, wie du zu sein."

"Stimmt", blicke ich schmunzelnd auf die Blondhaarige, die noch gute zwanzig Zentimeter kleiner ist, hinab. "Kommst du auch irgendwann in unsere Klasse?", fragt Lilly interessiert nach. "Wahrscheinlich eher nicht", verziehe ich mein Gesicht, "vielleicht muss ich mal einen Lehrer, der krank ist, vertreten. Aber ansonsten bin ich für die Klassen der älteren Schüler eingeteilt."

Sofort zieht das Mädchen einen Schmollmund. Genau so, wie sie es früher immer schon getan hat. "Schade", seufzt sie, während sie auf ihre Armbanduhr sieht. "Wie wäre es, wenn ich mal in der Hausaufgabenbetreuung vorbeischaue?", schlage ich vor, da ich sie ungerne so enttäuscht zurücklassen möchte.

"Oh, das Angebot ist wirklich cool. Aber ich bin dort gar nicht mehr angemeldet." Entschuldigend zieht sie ihre Schultern in die Höhe. Während ich immer wieder nicke, freue ich mich in einer gewissen Weise, dass Lilly ihre Nachmittage nicht mehr in der Schule verbringen muss. "Hat deine Mom die Halbtagsstelle angenommen?", erinnere ich mich daran, dass ihre Eltern damals ständig darüber diskutiert haben.

"Nein", schüttelt die Blondhaarige ihren Kopf. "Doch", verbessert sie sich daraufhin, "also kurz nachdem du dein Studium angefangen hast, hat meine Mom die andere Stelle angenommen. Aber seit einem Jahr arbeitet sie überhaupt nicht mehr." Erstaunt ziehe ich meine Augenbrauen in die Höhe. "Das tut mir leid?", stelle ich eher eine Frage, als mich - wofür auch immer - zu entschuldigen.

"Sie wurde nicht gekündigt", lacht Lilly laut auf. "Meine Mom hat letztes Jahr ein Kind bekommen", leuchten ihre Augen kurz auf. Aber dann verzieht das Mädchen gequält ihr Gesicht. "Sie nervt", murmelt die Blondhaarige, nachdem sie ihren Kopf gesenkt hat. "Deine Mom?", runzle ich etwas verwirrt meine Stirn.

"Lisbeth", presst die Schülerin ihren Kiefer fest zusammen, "meine Schwester brüllt ständig die halbe Wohnung zusammen und hält Nachts alle vom Schlafen ab." Bemitleidend lege ich kurz meine Hand auf ihre Schulter. Nach meiner Rechnung ist Lilly zwölf Jahre alt gewesen, als ihre Schwester auf die Welt gekommen ist. Das ist ein doppelt so großer Altersunterschied, wie bei Calvin und mir oder Aaliyah und Shawn.

"Es wird einfacher werden", lächle ich das Mädchen sanft an. "Ja", nickt sie, "irgendwann wird es so sein." Obwohl sie erst Dreizehn ist, scheint sie übermäßig reif und vernünftig zu sein. "Nun, ich muss langsam los", beende ich vorsichtig das Gespräch. Panisch sieht Lilly erneut auf ihre Armbanduhr. "Herr Patel wird mich umbringen", entfernt sie sich eilig von mir, während sie ihre Hand zur Verabschiedung ein Stück in die Höhe hebt.

"Ich hoffe, ich laufe dir bald noch einmal über den Weg", ruft mir die Blondhaarige im Rückwärtsgehen zu. "Das wirst du bestimmt. Die Schule ist schließlich kein Labyrinth", lache ich, nachdem ich ihr ebenfalls zugewinkt habe. Doch die Aussage entspricht nicht wirklich der Wahrheit. Denn ich habe bereits vor zwei Wochen mein Praktikum an der 'Pine Ridge Secondary School' angetreten und Lilly erst heute getroffen.

Mit einem Lächeln auf meinen Lippen rücke ich die Umhängetasche auf meiner Schulter zurecht. Dann haste ich mich, um das Zimmer der Neunten Klasse nicht mit einer allzu großen Verspätung zu betreten. "Guten Morgen Frau de Haan", singen alle Schüler vollkommen schief, während sie eilig von ihren Stühlen aufspringen. "Ein einfaches 'Guten Morgen' reicht", erinnere ich die vielen Jungen und Mädchen daran, dass ich diesen Gesang unerträglich finde.

Meant To Be \\ Shawn MendesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt